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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743.

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von den Chören.
Musse geben. Das ist also die Materie und der
Jnnhalt der Gesänge des Chors. Und dergestalt
entspringt die Nothwendigkeit der Chöre von der
verständigen Wahl der theatralischen Handlung,
und des Ortes der Scene. Gleichwie man sie
mit keiner Manier in ein Cabinet hinein führen
könnte, also kan man sie auf einem öffentlichen
Platze nicht ausschliessen, und also bekommen der
Ort der Scene, die Handlung und der Chor, ei-
nes von dem andern eine Wahrscheinlichkeit.

Man muß nur ein Trauerspiel des Sophocles sorg-
fältig untersuchen, so wird man wahrnehmen, daß
die meisten Grundregeln des Theaters eine natür-
liche Folge der Chöre sind. Die Alten beobach-
ten die Einheit des Ortes beständig; sie hielten die-
se Regel vor so beschaffen, daß sie niemahls verle-
zet werden dörfte. Die Ursache dessen ist, weil
man die Wahrscheinlichkeit lieber in denen Sachen
aus der Acht setzen muß, wo es nöthig ist, Sätze
und Schlüsse zu machen, wenn man sie gewahr
werden soll, als in solchen Sachen, welche in die
Sinnen fallen, und einen aufmercksamen Zuseher
erstes Anblickes argern. Man macht uns heu-
tiges Tages glauben, daß, was erst ein Saal gewe-
sen, einesmahls ein Garten geworden sey, und man
verwandelt ohne Bedencken das Zimmer einer
Printzeßin in einen Tempel, oder einen öffentlichen
Platz. Die Chöre hinderten die Alten, daß sie
diesen Fehler nicht begiengen. Dann da der Chor
schier niemahls von dem Schauplatze gieng, wann
er ihn einmahl betreten hatte, so wäre es augen-
scheinlich lächerlich gewesen, wann man den Schau-

platz
F 4

von den Choͤren.
Muſſe geben. Das iſt alſo die Materie und der
Jnnhalt der Geſaͤnge des Chors. Und dergeſtalt
entſpringt die Nothwendigkeit der Choͤre von der
verſtaͤndigen Wahl der theatraliſchen Handlung,
und des Ortes der Scene. Gleichwie man ſie
mit keiner Manier in ein Cabinet hinein fuͤhren
koͤnnte, alſo kan man ſie auf einem oͤffentlichen
Platze nicht ausſchlieſſen, und alſo bekommen der
Ort der Scene, die Handlung und der Chor, ei-
nes von dem andern eine Wahrſcheinlichkeit.

Man muß nur ein Trauerſpiel des Sophocles ſorg-
faͤltig unterſuchen, ſo wird man wahrnehmen, daß
die meiſten Grundregeln des Theaters eine natuͤr-
liche Folge der Choͤre ſind. Die Alten beobach-
ten die Einheit des Ortes beſtaͤndig; ſie hielten die-
ſe Regel vor ſo beſchaffen, daß ſie niemahls verle-
zet werden doͤrfte. Die Urſache deſſen iſt, weil
man die Wahrſcheinlichkeit lieber in denen Sachen
aus der Acht ſetzen muß, wo es noͤthig iſt, Saͤtze
und Schluͤſſe zu machen, wenn man ſie gewahr
werden ſoll, als in ſolchen Sachen, welche in die
Sinnen fallen, und einen aufmerckſamen Zuſeher
erſtes Anblickes argern. Man macht uns heu-
tiges Tages glauben, daß, was erſt ein Saal gewe-
ſen, einesmahls ein Garten geworden ſey, und man
verwandelt ohne Bedencken das Zimmer einer
Printzeßin in einen Tempel, oder einen oͤffentlichen
Platz. Die Choͤre hinderten die Alten, daß ſie
dieſen Fehler nicht begiengen. Dann da der Chor
ſchier niemahls von dem Schauplatze gieng, wann
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ſcheinlich laͤcherlich geweſen, wann man den Schau-

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[87/0087] von den Choͤren. Muſſe geben. Das iſt alſo die Materie und der Jnnhalt der Geſaͤnge des Chors. Und dergeſtalt entſpringt die Nothwendigkeit der Choͤre von der verſtaͤndigen Wahl der theatraliſchen Handlung, und des Ortes der Scene. Gleichwie man ſie mit keiner Manier in ein Cabinet hinein fuͤhren koͤnnte, alſo kan man ſie auf einem oͤffentlichen Platze nicht ausſchlieſſen, und alſo bekommen der Ort der Scene, die Handlung und der Chor, ei- nes von dem andern eine Wahrſcheinlichkeit. Man muß nur ein Trauerſpiel des Sophocles ſorg- faͤltig unterſuchen, ſo wird man wahrnehmen, daß die meiſten Grundregeln des Theaters eine natuͤr- liche Folge der Choͤre ſind. Die Alten beobach- ten die Einheit des Ortes beſtaͤndig; ſie hielten die- ſe Regel vor ſo beſchaffen, daß ſie niemahls verle- zet werden doͤrfte. Die Urſache deſſen iſt, weil man die Wahrſcheinlichkeit lieber in denen Sachen aus der Acht ſetzen muß, wo es noͤthig iſt, Saͤtze und Schluͤſſe zu machen, wenn man ſie gewahr werden ſoll, als in ſolchen Sachen, welche in die Sinnen fallen, und einen aufmerckſamen Zuſeher erſtes Anblickes argern. Man macht uns heu- tiges Tages glauben, daß, was erſt ein Saal gewe- ſen, einesmahls ein Garten geworden ſey, und man verwandelt ohne Bedencken das Zimmer einer Printzeßin in einen Tempel, oder einen oͤffentlichen Platz. Die Choͤre hinderten die Alten, daß ſie dieſen Fehler nicht begiengen. Dann da der Chor ſchier niemahls von dem Schauplatze gieng, wann er ihn einmahl betreten hatte, ſo waͤre es augen- ſcheinlich laͤcherlich geweſen, wann man den Schau- platz F 4

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/87>, abgerufen am 19.05.2024.