Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Fabeln.
III.
Die Meise und der Sperling.
ES hatte die behertzte Meise
Das warme Jahr durch ihre Speise
Nach eignem Wünschen und Verlangen
Vollauf und ohne Müh empfangen.
Bald fieng der Nordwind an zu rasen,
Es wurde durch sein kaltes Blasen
Des Berges Gipfel silberweiß,
Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß,
Das Feld als Stein, und durch die Kälte
Sah man in vielen Bäumen Spälte.
Ey Vogel, nimmst du so verlieb
Mit der mit Eiß gewürtzten Speise?
So sprach der kleine Saatedieb,
Der Sperling, zu der muntern Meise.
Jch fürchte sehr, du müssest sterben,
Und durch der Kälte Grimm verderben.
Was hilft dich izt dein stetes Springen,
Dein Hüpfen, Fliegen, und dein Singen,
Dein Zizipa, dein Zizipa?
Sing eh: O weh! mein End ist nah!
Sieh doch, wie hab ich es so gut,
Jch zeuge täglich frisches Blut;
Von Ueberfluß an Speltz und Gersten
Mögt ich, du siehst es selbst, zerbersten.
Die aufgeweckte Meise spricht:
Der Meisen Stamm vergehet nicht,
So lang im Boden Würmer leben,
Und Mücken in den Lüften schweben.
Mein Freund, es wär ein gleiches Wunder,
Gieng ein Geschlecht, mein oder deines, unter.
Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt,
Der lebt vergnügt, und unverzagt.
Der holde Lentz mit seinen Schätzen
Wird meinen Mangel schon ersetzen.
Jch singe schon, als wär er da,
Mein Zizipa, mein Zizipa.
IV.
Neue Fabeln.
III.
Die Meiſe und der Sperling.
ES hatte die behertzte Meiſe
Das warme Jahr durch ihre Speiſe
Nach eignem Wuͤnſchen und Verlangen
Vollauf und ohne Muͤh empfangen.
Bald fieng der Nordwind an zu raſen,
Es wurde durch ſein kaltes Blaſen
Des Berges Gipfel ſilberweiß,
Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß,
Das Feld als Stein, und durch die Kaͤlte
Sah man in vielen Baͤumen Spaͤlte.
Ey Vogel, nimmſt du ſo verlieb
Mit der mit Eiß gewuͤrtzten Speiſe?
So ſprach der kleine Saatedieb,
Der Sperling, zu der muntern Meiſe.
Jch fuͤrchte ſehr, du muͤſſeſt ſterben,
Und durch der Kaͤlte Grimm verderben.
Was hilft dich izt dein ſtetes Springen,
Dein Huͤpfen, Fliegen, und dein Singen,
Dein Zizipa, dein Zizipa?
Sing eh: O weh! mein End iſt nah!
Sieh doch, wie hab ich es ſo gut,
Jch zeuge taͤglich friſches Blut;
Von Ueberfluß an Speltz und Gerſten
Moͤgt ich, du ſiehſt es ſelbſt, zerberſten.
Die aufgeweckte Meiſe ſpricht:
Der Meiſen Stamm vergehet nicht,
So lang im Boden Wuͤrmer leben,
Und Muͤcken in den Luͤften ſchweben.
Mein Freund, es waͤr ein gleiches Wunder,
Gieng ein Geſchlecht, mein oder deines, unter.
Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt,
Der lebt vergnuͤgt, und unverzagt.
Der holde Lentz mit ſeinen Schaͤtzen
Wird meinen Mangel ſchon erſetzen.
Jch ſinge ſchon, als waͤr er da,
Mein Zizipa, mein Zizipa.
IV.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0093" n="91"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Neue Fabeln.</hi> </fw><lb/>
        <lg type="poem">
          <head> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#g">III.</hi> </hi><lb/> <hi rendition="#b">Die Mei&#x017F;e und der Sperling.</hi> </head><lb/>
          <l><hi rendition="#in">E</hi>S hatte die behertzte Mei&#x017F;e</l><lb/>
          <l>Das warme Jahr durch ihre Spei&#x017F;e</l><lb/>
          <l>Nach eignem Wu&#x0364;n&#x017F;chen und Verlangen</l><lb/>
          <l>Vollauf und ohne Mu&#x0364;h empfangen.</l><lb/>
          <l>Bald fieng der Nordwind an zu ra&#x017F;en,</l><lb/>
          <l>Es wurde durch &#x017F;ein kaltes Bla&#x017F;en</l><lb/>
          <l>Des Berges Gipfel &#x017F;ilberweiß,</l><lb/>
          <l>Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß,</l><lb/>
          <l>Das Feld als Stein, und durch die Ka&#x0364;lte</l><lb/>
          <l>Sah man in vielen Ba&#x0364;umen Spa&#x0364;lte.</l><lb/>
          <l>Ey Vogel, nimm&#x017F;t du &#x017F;o verlieb</l><lb/>
          <l>Mit der mit Eiß gewu&#x0364;rtzten Spei&#x017F;e?</l><lb/>
          <l>So &#x017F;prach der kleine Saatedieb,</l><lb/>
          <l>Der Sperling, zu der muntern Mei&#x017F;e.</l><lb/>
          <l>Jch fu&#x0364;rchte &#x017F;ehr, du mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t &#x017F;terben,</l><lb/>
          <l>Und durch der Ka&#x0364;lte Grimm verderben.</l><lb/>
          <l>Was hilft dich izt dein &#x017F;tetes Springen,</l><lb/>
          <l>Dein Hu&#x0364;pfen, Fliegen, und dein Singen,</l><lb/>
          <l>Dein Zizipa, dein Zizipa?</l><lb/>
          <l>Sing eh: O weh! mein End i&#x017F;t nah!</l><lb/>
          <l>Sieh doch, wie hab ich es &#x017F;o gut,</l><lb/>
          <l>Jch zeuge ta&#x0364;glich fri&#x017F;ches Blut;</l><lb/>
          <l>Von Ueberfluß an Speltz und Ger&#x017F;ten</l><lb/>
          <l>Mo&#x0364;gt ich, du &#x017F;ieh&#x017F;t es &#x017F;elb&#x017F;t, zerber&#x017F;ten.</l><lb/>
          <l>Die aufgeweckte Mei&#x017F;e &#x017F;pricht:</l><lb/>
          <l>Der Mei&#x017F;en Stamm vergehet nicht,</l><lb/>
          <l>So lang im Boden Wu&#x0364;rmer leben,</l><lb/>
          <l>Und Mu&#x0364;cken in den Lu&#x0364;ften &#x017F;chweben.</l><lb/>
          <l>Mein Freund, es wa&#x0364;r ein gleiches Wunder,</l><lb/>
          <l>Gieng ein Ge&#x017F;chlecht, mein oder deines, unter.</l><lb/>
          <l>Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt,</l><lb/>
          <l>Der lebt vergnu&#x0364;gt, und unverzagt.</l><lb/>
          <l>Der holde Lentz mit &#x017F;einen Scha&#x0364;tzen</l><lb/>
          <l>Wird meinen Mangel &#x017F;chon er&#x017F;etzen.</l><lb/>
          <l>Jch &#x017F;inge &#x017F;chon, als wa&#x0364;r er da,</l><lb/>
          <l>Mein Zizipa, mein Zizipa.</l>
        </lg><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">IV.</hi> </fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0093] Neue Fabeln. III. Die Meiſe und der Sperling. ES hatte die behertzte Meiſe Das warme Jahr durch ihre Speiſe Nach eignem Wuͤnſchen und Verlangen Vollauf und ohne Muͤh empfangen. Bald fieng der Nordwind an zu raſen, Es wurde durch ſein kaltes Blaſen Des Berges Gipfel ſilberweiß, Der Bach, der Teich, der Fluß zu Eiß, Das Feld als Stein, und durch die Kaͤlte Sah man in vielen Baͤumen Spaͤlte. Ey Vogel, nimmſt du ſo verlieb Mit der mit Eiß gewuͤrtzten Speiſe? So ſprach der kleine Saatedieb, Der Sperling, zu der muntern Meiſe. Jch fuͤrchte ſehr, du muͤſſeſt ſterben, Und durch der Kaͤlte Grimm verderben. Was hilft dich izt dein ſtetes Springen, Dein Huͤpfen, Fliegen, und dein Singen, Dein Zizipa, dein Zizipa? Sing eh: O weh! mein End iſt nah! Sieh doch, wie hab ich es ſo gut, Jch zeuge taͤglich friſches Blut; Von Ueberfluß an Speltz und Gerſten Moͤgt ich, du ſiehſt es ſelbſt, zerberſten. Die aufgeweckte Meiſe ſpricht: Der Meiſen Stamm vergehet nicht, So lang im Boden Wuͤrmer leben, Und Muͤcken in den Luͤften ſchweben. Mein Freund, es waͤr ein gleiches Wunder, Gieng ein Geſchlecht, mein oder deines, unter. Nein! Wer nichts nach dem Morgen fragt, Der lebt vergnuͤgt, und unverzagt. Der holde Lentz mit ſeinen Schaͤtzen Wird meinen Mangel ſchon erſetzen. Jch ſinge ſchon, als waͤr er da, Mein Zizipa, mein Zizipa. IV.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung11_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung11_1743/93
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung11_1743/93>, abgerufen am 18.05.2024.