[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.Wir weit sich ein Poet führen, weil er ihnen der Wahrscheinlichkeit ge-mäß keine andere als gottlose und leichtfertige Re- den in den Mund geben könnte. Jch will diesen scheinheiligen Lehrsatz, der die Zulassung des Bö- sen in der Welt gleichsam meistert, und die mei- sten Stücke in Hrn. Gottscheds deutscher Schau- bühne zugleich verdammet, nicht anders widerle- gen, als daß ich J. A. K. erinnern will, daß die H. Schrift selbst, ohne einige Befleckung ihrer Heiligkeit, diese Wahrscheinlichkeit beobachtet, daß sie hin und wieder gottlose Menschen, ia selbst Teufel aufführet, denen sie ihrem Character ge- mäß unvernünftige, ja lästerliche Reden beyleget. Nach des J. A. K. Lehrsatz ist sie nicht zu ent- schuldigen, daß sie diese Nachbildungen nicht weg- gelassen hat. Die Poesie ist eine Nachahmung der Natur in dem Wircklichen, wie in dem Mög- lichen: da nun Thorheit, Aberglauben, Gottlo- sigkeit, nicht nur möglich sind, sondern die Welt wircklich beherrschen, die Wahrheit und Tugend verfolgen, und so fern sie können, unterdrücken; so höret die Poesie auf zu seyn, was sie ist, wenn sie die Natur nur in einem kleinen Theil des Würck- lichen nachahmen darf. Jm übrigen findet J. A. K. seine völlige Abfertigung in Hrn. Breitingers Crit. Dichtkunst Bl. 339. wo es heißt: "Jndessen ist "glau-
Wir weit ſich ein Poet fuͤhren, weil er ihnen der Wahrſcheinlichkeit ge-maͤß keine andere als gottloſe und leichtfertige Re- den in den Mund geben koͤnnte. Jch will dieſen ſcheinheiligen Lehrſatz, der die Zulaſſung des Boͤ- ſen in der Welt gleichſam meiſtert, und die mei- ſten Stuͤcke in Hrn. Gottſcheds deutſcher Schau- buͤhne zugleich verdammet, nicht anders widerle- gen, als daß ich J. A. K. erinnern will, daß die H. Schrift ſelbſt, ohne einige Befleckung ihrer Heiligkeit, dieſe Wahrſcheinlichkeit beobachtet, daß ſie hin und wieder gottloſe Menſchen, ia ſelbſt Teufel auffuͤhret, denen ſie ihrem Character ge- maͤß unvernuͤnftige, ja laͤſterliche Reden beyleget. Nach des J. A. K. Lehrſatz iſt ſie nicht zu ent- ſchuldigen, daß ſie dieſe Nachbildungen nicht weg- gelaſſen hat. Die Poeſie iſt eine Nachahmung der Natur in dem Wircklichen, wie in dem Moͤg- lichen: da nun Thorheit, Aberglauben, Gottlo- ſigkeit, nicht nur moͤglich ſind, ſondern die Welt wircklich beherrſchen, die Wahrheit und Tugend verfolgen, und ſo fern ſie koͤnnen, unterdruͤcken; ſo hoͤret die Poeſie auf zu ſeyn, was ſie iſt, wenn ſie die Natur nur in einem kleinen Theil des Wuͤrck- lichen nachahmen darf. Jm uͤbrigen findet J. A. K. ſeine voͤllige Abfertigung in Hrn. Breitingers Crit. Dichtkunſt Bl. 339. wo es heißt: „Jndeſſen iſt „glau-
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Wir weit ſich ein Poet
fuͤhren, weil er ihnen der Wahrſcheinlichkeit ge-
maͤß keine andere als gottloſe und leichtfertige Re-
den in den Mund geben koͤnnte. Jch will dieſen
ſcheinheiligen Lehrſatz, der die Zulaſſung des Boͤ-
ſen in der Welt gleichſam meiſtert, und die mei-
ſten Stuͤcke in Hrn. Gottſcheds deutſcher Schau-
buͤhne zugleich verdammet, nicht anders widerle-
gen, als daß ich J. A. K. erinnern will, daß die
H. Schrift ſelbſt, ohne einige Befleckung ihrer
Heiligkeit, dieſe Wahrſcheinlichkeit beobachtet,
daß ſie hin und wieder gottloſe Menſchen, ia ſelbſt
Teufel auffuͤhret, denen ſie ihrem Character ge-
maͤß unvernuͤnftige, ja laͤſterliche Reden beyleget.
Nach des J. A. K. Lehrſatz iſt ſie nicht zu ent-
ſchuldigen, daß ſie dieſe Nachbildungen nicht weg-
gelaſſen hat. Die Poeſie iſt eine Nachahmung
der Natur in dem Wircklichen, wie in dem Moͤg-
lichen: da nun Thorheit, Aberglauben, Gottlo-
ſigkeit, nicht nur moͤglich ſind, ſondern die Welt
wircklich beherrſchen, die Wahrheit und Tugend
verfolgen, und ſo fern ſie koͤnnen, unterdruͤcken;
ſo hoͤret die Poeſie auf zu ſeyn, was ſie iſt, wenn
ſie die Natur nur in einem kleinen Theil des Wuͤrck-
lichen nachahmen darf. Jm uͤbrigen findet J. A. K.
ſeine voͤllige Abfertigung in Hrn. Breitingers Crit.
Dichtkunſt Bl. 339. wo es heißt:
„Jndeſſen iſt
„in dem Gebrauche dieſes Kunſtgriffes groſſe Be-
„hutſamkeit noͤthig; ich wollte nicht, daß die
„Poeſie mißbraucht wuͤrde, den Aberglauben
„in ſeinen abentheurlichen Traͤumen zu beſteif-
„fen, und dieſelben noch weiter auszubreiten.
„Der Poet muß ſich freylich die Hiſtorie des Aber-
„glau-
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