Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

Bild:
<< vorherige Seite

des Wahnes bedienen könne.
diese Sage zum theil auf einem Betruge der
Sinnen beruhet. Wenn ich aber J. A. K.
würcklich recht lassen würde, was würde er da-
mit gewinnen? Der Poet giebt es nicht für
eine wahrhafte und untrügliche Erzehlung, son-
dern für eine blosse Sage dar, und diese Sage
dienet ihm nicht weniger dasjenige damit zu er-
läutern, was er erläutern will, als wenn es ei-
ne unstreitige Geschichte seyn würde.

Was den andern Gebrauch des Wahnes an-
siehet, so erklärt er sich auf der 271. Seite dar-
über also:

"Allein, daß es angehe, von einer
"Wahrheit oder einem Erfolge die Ursache an-
"zugeben, darwider streitet der Grundsatz der
"Poesie, man müßte jedesmahl eine Sache
"bilden, wie sie ist."

Es ist mir fast ich lese
in einem Wörterbuch ein Blatt voll einzelner
Wörter, so sehr scheinet diese Erklärung ohne
Verstand durch den blossen Zufall erwachsen zu
seyn. Jch verstehe nicht, was die Ursache von
einer Wahrheit
ist; warum sollte es nicht ange-
hen, von einem Erfolge eine Ursache anzuge-
ben?
Wo hat er den Grundsatz der Poesie ge-
lernet, man müsse jedesmahl eine Sache bil-
den, wie sie ist?
Nach diesem Grundsatz ist kei-
ne Poesie noch Erdichtung nicht einmahl mög-
lich, wie kan es dann ein Grundsatz der Poesie
seyn? Jch mag vor Ungeduld die Zeit nicht er-
warten, daß ich seines Lehrmeisters, des Hrn.
Prof. Gottscheden ausführlichen Commentarium
über folgende und andere dergleichen Regeln
in Aristoteles Poetick lesen kan:

"Der Poet
"muß die unmöglichen Dinge, wenn solche nur
"wahr-
B 5

des Wahnes bedienen koͤnne.
dieſe Sage zum theil auf einem Betruge der
Sinnen beruhet. Wenn ich aber J. A. K.
wuͤrcklich recht laſſen wuͤrde, was wuͤrde er da-
mit gewinnen? Der Poet giebt es nicht fuͤr
eine wahrhafte und untruͤgliche Erzehlung, ſon-
dern fuͤr eine bloſſe Sage dar, und dieſe Sage
dienet ihm nicht weniger dasjenige damit zu er-
laͤutern, was er erlaͤutern will, als wenn es ei-
ne unſtreitige Geſchichte ſeyn wuͤrde.

Was den andern Gebrauch des Wahnes an-
ſiehet, ſo erklaͤrt er ſich auf der 271. Seite dar-
uͤber alſo:

„Allein, daß es angehe, von einer
„Wahrheit oder einem Erfolge die Urſache an-
„zugeben, darwider ſtreitet der Grundſatz der
„Poeſie, man muͤßte jedesmahl eine Sache
„bilden, wie ſie iſt.„

Es iſt mir faſt ich leſe
in einem Woͤrterbuch ein Blatt voll einzelner
Woͤrter, ſo ſehr ſcheinet dieſe Erklaͤrung ohne
Verſtand durch den bloſſen Zufall erwachſen zu
ſeyn. Jch verſtehe nicht, was die Urſache von
einer Wahrheit
iſt; warum ſollte es nicht ange-
hen, von einem Erfolge eine Urſache anzuge-
ben?
Wo hat er den Grundſatz der Poeſie ge-
lernet, man muͤſſe jedesmahl eine Sache bil-
den, wie ſie iſt?
Nach dieſem Grundſatz iſt kei-
ne Poeſie noch Erdichtung nicht einmahl moͤg-
lich, wie kan es dann ein Grundſatz der Poeſie
ſeyn? Jch mag vor Ungeduld die Zeit nicht er-
warten, daß ich ſeines Lehrmeiſters, des Hrn.
Prof. Gottſcheden ausfuͤhrlichen Commentarium
uͤber folgende und andere dergleichen Regeln
in Ariſtoteles Poetick leſen kan:

„Der Poet
„muß die unmoͤglichen Dinge, wenn ſolche nur
„wahr-
B 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0027" n="25"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">des Wahnes bedienen ko&#x0364;nne.</hi></fw><lb/>
die&#x017F;e Sage zum theil auf einem Betruge der<lb/>
Sinnen beruhet. Wenn ich aber J. A. K.<lb/>
wu&#x0364;rcklich recht la&#x017F;&#x017F;en wu&#x0364;rde, was wu&#x0364;rde er da-<lb/>
mit gewinnen? Der Poet giebt es nicht fu&#x0364;r<lb/>
eine wahrhafte und untru&#x0364;gliche Erzehlung, &#x017F;on-<lb/>
dern fu&#x0364;r eine blo&#x017F;&#x017F;e Sage dar, und die&#x017F;e Sage<lb/>
dienet ihm nicht weniger dasjenige damit zu er-<lb/>
la&#x0364;utern, was er erla&#x0364;utern will, als wenn es ei-<lb/>
ne un&#x017F;treitige Ge&#x017F;chichte &#x017F;eyn wu&#x0364;rde.</p><lb/>
        <p>Was den andern Gebrauch des Wahnes an-<lb/>
&#x017F;iehet, &#x017F;o erkla&#x0364;rt er &#x017F;ich auf der 271. Seite dar-<lb/>
u&#x0364;ber al&#x017F;o:</p>
        <cit>
          <quote>&#x201E;Allein, daß es angehe, von einer<lb/>
&#x201E;Wahrheit oder einem Erfolge die Ur&#x017F;ache an-<lb/>
&#x201E;zugeben, darwider &#x017F;treitet der Grund&#x017F;atz der<lb/>
&#x201E;Poe&#x017F;ie, man mu&#x0364;ßte jedesmahl eine Sache<lb/>
&#x201E;bilden, wie &#x017F;ie i&#x017F;t.&#x201E;</quote>
        </cit><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t mir fa&#x017F;t ich le&#x017F;e<lb/>
in einem Wo&#x0364;rterbuch ein Blatt voll einzelner<lb/>
Wo&#x0364;rter, &#x017F;o &#x017F;ehr &#x017F;cheinet die&#x017F;e Erkla&#x0364;rung ohne<lb/>
Ver&#x017F;tand durch den blo&#x017F;&#x017F;en Zufall erwach&#x017F;en zu<lb/>
&#x017F;eyn. Jch ver&#x017F;tehe nicht, was die <hi rendition="#fr">Ur&#x017F;ache von<lb/>
einer Wahrheit</hi> i&#x017F;t; warum &#x017F;ollte es nicht ange-<lb/>
hen, <hi rendition="#fr">von einem Erfolge eine Ur&#x017F;ache anzuge-<lb/>
ben?</hi> Wo hat er den Grund&#x017F;atz der Poe&#x017F;ie ge-<lb/>
lernet, <hi rendition="#fr">man mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e jedesmahl eine Sache bil-<lb/>
den, wie &#x017F;ie i&#x017F;t?</hi> Nach die&#x017F;em Grund&#x017F;atz i&#x017F;t kei-<lb/>
ne Poe&#x017F;ie noch Erdichtung nicht einmahl mo&#x0364;g-<lb/>
lich, wie kan es dann ein Grund&#x017F;atz der Poe&#x017F;ie<lb/>
&#x017F;eyn? Jch mag vor Ungeduld die Zeit nicht er-<lb/>
warten, daß ich &#x017F;eines Lehrmei&#x017F;ters, des Hrn.<lb/>
Prof. <hi rendition="#fr">Gott&#x017F;cheden</hi> ausfu&#x0364;hrlichen <hi rendition="#aq">Commentarium</hi><lb/>
u&#x0364;ber folgende und andere dergleichen Regeln<lb/>
in Ari&#x017F;toteles Poetick le&#x017F;en kan:</p><lb/>
        <cit>
          <quote>&#x201E;Der Poet<lb/>
&#x201E;muß die unmo&#x0364;glichen Dinge, wenn &#x017F;olche nur<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 5</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;wahr-</fw><lb/></quote>
        </cit>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0027] des Wahnes bedienen koͤnne. dieſe Sage zum theil auf einem Betruge der Sinnen beruhet. Wenn ich aber J. A. K. wuͤrcklich recht laſſen wuͤrde, was wuͤrde er da- mit gewinnen? Der Poet giebt es nicht fuͤr eine wahrhafte und untruͤgliche Erzehlung, ſon- dern fuͤr eine bloſſe Sage dar, und dieſe Sage dienet ihm nicht weniger dasjenige damit zu er- laͤutern, was er erlaͤutern will, als wenn es ei- ne unſtreitige Geſchichte ſeyn wuͤrde. Was den andern Gebrauch des Wahnes an- ſiehet, ſo erklaͤrt er ſich auf der 271. Seite dar- uͤber alſo: „Allein, daß es angehe, von einer „Wahrheit oder einem Erfolge die Urſache an- „zugeben, darwider ſtreitet der Grundſatz der „Poeſie, man muͤßte jedesmahl eine Sache „bilden, wie ſie iſt.„ Es iſt mir faſt ich leſe in einem Woͤrterbuch ein Blatt voll einzelner Woͤrter, ſo ſehr ſcheinet dieſe Erklaͤrung ohne Verſtand durch den bloſſen Zufall erwachſen zu ſeyn. Jch verſtehe nicht, was die Urſache von einer Wahrheit iſt; warum ſollte es nicht ange- hen, von einem Erfolge eine Urſache anzuge- ben? Wo hat er den Grundſatz der Poeſie ge- lernet, man muͤſſe jedesmahl eine Sache bil- den, wie ſie iſt? Nach dieſem Grundſatz iſt kei- ne Poeſie noch Erdichtung nicht einmahl moͤg- lich, wie kan es dann ein Grundſatz der Poeſie ſeyn? Jch mag vor Ungeduld die Zeit nicht er- warten, daß ich ſeines Lehrmeiſters, des Hrn. Prof. Gottſcheden ausfuͤhrlichen Commentarium uͤber folgende und andere dergleichen Regeln in Ariſtoteles Poetick leſen kan: „Der Poet „muß die unmoͤglichen Dinge, wenn ſolche nur „wahr- B 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/27
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/27>, abgerufen am 23.11.2024.