Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Boeheim, Wendelin: Handbuch der Waffenkunde. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
vom Beginne an eine vollkommen geänderte Taktik zu empfehlen.
Nicht nur aus dieser Ursache, sondern durch die ungünstigen Boden-
verhältnisse veranlasst, musste dem Fussvolke schon im ersten Kreuz-
zuge ein bedeutenderer Wirkungskreis eingeräumt werden, als ihm
bisher vergönnt war. Die schweren Reiterscharen der Europäer
konnten nur im geraden Stosse eine Wirkung erreichen. Schon bei
Antiochia (1097) hatten die Ritter aus Not es vorgezogen, dem An-
griffe des Feindes zu Fuss zu begegnen, und hatten damit einen
ungemeinen Erfolg erzielt. Hundert Jahre später, im dritten Kreuz-
zuge, wiederholte Richard I. von England 1192 bei Joppe diesen
Versuch mit dem gleichen überraschenden Erfolge. In seiner Stell-
ordnung, die er den alten Regeln der Griechen, des Atheners Cha-
brias, entlehnte, äussert sich deutlich die zur Zeit allgemein geteilte
Überzeugung, dass die Kriegskunst seit dem Zusammenbruche des
Römerreiches auf Abwege geraten, dass sie da wieder aufgenommen
werden müsse, wo sie abgebrochen war.

Aber von der Erkenntnis bis zur allgemeinen Durchführung war
noch ein weiter Raum. Die innere politische Verfassung, das noch
immer kräftige Lehenswesen, das mit dem ganzen Kriegswesen im
innigen Verbande war, liess eine Änderung in der Streitweise nicht
zu; nach Europa zurückgekehrt, war auch die Notwendigkeit einer
solchen weniger gefühlt; da traf doch ein Lehensheer wieder das
andere; nur in Italien und gegen die Städte war Vorsicht nötig, aber
der Krieg gegen diese bestand doch zumeist in Belagerungen. Im
Norden Europas wurde der Krieg allerdings nur von einem tüchtigen
Fussvolke geführt, wie unter den Stedingern und Friesen, aber die
Ereignisse dortselbst waren doch zu wenig bedeutend, um Aufmerk-
samkeit zu erregen. Eine überraschende Katastrophe musste kommen,
um eine Umänderung der Organisation und Streitweise in Aus-
führung zu bringen.

Je mehr die Lehenschaft ihre Wichtigkeit fühlte, desto mehr
suchte der einzelne darin seinen Wert und seine Unentbehrlichkeit
festzustellen. Diese übertriebene Selbstschätzung führte zu einer Zeit,
als schon die ersten Symptome einer Verrückung des bisherigen
Schwerpunktes in den Waffengattungen wahrnehmbar wurden, zu
einer ebenso übertrieben schweren Bewaffnung. Der einzelne wollte
nicht allein als Held, sondern auch "absolut unverwundbar" erscheinen;
das führte zu einer ungemein schweren Ausrüstung des Reiters mit
Topfhelm und anderen Schutzwaffen, die auf dem orientalischen
Kriegstheater im argen Missverhältnisse mit dem Klima daselbst und
der eigenartigen Fechtweise des Feindes stand. Was nützte die all-
mähliche Verkürzung des gewichtigen Haubert, die Verbesserung des
Schutzes der Beine, die dadurch ermöglichte Verkleinerung des
Schildes, wenn die Notwendigkeit hinwieder zur Verstärkung des Leib-
harnisches durch immer grössere Eisenplatten zwang? Der Reiter

Einleitung.
vom Beginne an eine vollkommen geänderte Taktik zu empfehlen.
Nicht nur aus dieser Ursache, sondern durch die ungünstigen Boden-
verhältnisse veranlaſst, muſste dem Fuſsvolke schon im ersten Kreuz-
zuge ein bedeutenderer Wirkungskreis eingeräumt werden, als ihm
bisher vergönnt war. Die schweren Reiterscharen der Europäer
konnten nur im geraden Stoſse eine Wirkung erreichen. Schon bei
Antiochia (1097) hatten die Ritter aus Not es vorgezogen, dem An-
griffe des Feindes zu Fuſs zu begegnen, und hatten damit einen
ungemeinen Erfolg erzielt. Hundert Jahre später, im dritten Kreuz-
zuge, wiederholte Richard I. von England 1192 bei Joppe diesen
Versuch mit dem gleichen überraschenden Erfolge. In seiner Stell-
ordnung, die er den alten Regeln der Griechen, des Atheners Cha-
brias, entlehnte, äuſsert sich deutlich die zur Zeit allgemein geteilte
Überzeugung, daſs die Kriegskunst seit dem Zusammenbruche des
Römerreiches auf Abwege geraten, daſs sie da wieder aufgenommen
werden müsse, wo sie abgebrochen war.

Aber von der Erkenntnis bis zur allgemeinen Durchführung war
noch ein weiter Raum. Die innere politische Verfassung, das noch
immer kräftige Lehenswesen, das mit dem ganzen Kriegswesen im
innigen Verbande war, lieſs eine Änderung in der Streitweise nicht
zu; nach Europa zurückgekehrt, war auch die Notwendigkeit einer
solchen weniger gefühlt; da traf doch ein Lehensheer wieder das
andere; nur in Italien und gegen die Städte war Vorsicht nötig, aber
der Krieg gegen diese bestand doch zumeist in Belagerungen. Im
Norden Europas wurde der Krieg allerdings nur von einem tüchtigen
Fuſsvolke geführt, wie unter den Stedingern und Friesen, aber die
Ereignisse dortselbst waren doch zu wenig bedeutend, um Aufmerk-
samkeit zu erregen. Eine überraschende Katastrophe muſste kommen,
um eine Umänderung der Organisation und Streitweise in Aus-
führung zu bringen.

Je mehr die Lehenschaft ihre Wichtigkeit fühlte, desto mehr
suchte der einzelne darin seinen Wert und seine Unentbehrlichkeit
festzustellen. Diese übertriebene Selbstschätzung führte zu einer Zeit,
als schon die ersten Symptome einer Verrückung des bisherigen
Schwerpunktes in den Waffengattungen wahrnehmbar wurden, zu
einer ebenso übertrieben schweren Bewaffnung. Der einzelne wollte
nicht allein als Held, sondern auch »absolut unverwundbar« erscheinen;
das führte zu einer ungemein schweren Ausrüstung des Reiters mit
Topfhelm und anderen Schutzwaffen, die auf dem orientalischen
Kriegstheater im argen Miſsverhältnisse mit dem Klima daselbst und
der eigenartigen Fechtweise des Feindes stand. Was nützte die all-
mähliche Verkürzung des gewichtigen Haubert, die Verbeſserung des
Schutzes der Beine, die dadurch ermöglichte Verkleinerung des
Schildes, wenn die Notwendigkeit hinwieder zur Verstärkung des Leib-
harnisches durch immer gröſsere Eisenplatten zwang? Der Reiter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0028" n="10"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
vom Beginne an eine vollkommen geänderte Taktik zu empfehlen.<lb/>
Nicht nur aus dieser Ursache, sondern durch die ungünstigen Boden-<lb/>
verhältnisse veranla&#x017F;st, mu&#x017F;ste dem Fu&#x017F;svolke schon im ersten Kreuz-<lb/>
zuge ein bedeutenderer Wirkungskreis eingeräumt werden, als ihm<lb/>
bisher vergönnt war. Die schweren Reiterscharen der Europäer<lb/>
konnten nur im geraden Sto&#x017F;se eine Wirkung erreichen. Schon bei<lb/>
Antiochia (1097) hatten die Ritter aus Not es vorgezogen, dem An-<lb/>
griffe des Feindes zu Fu&#x017F;s zu begegnen, und hatten damit einen<lb/>
ungemeinen Erfolg erzielt. Hundert Jahre später, im dritten Kreuz-<lb/>
zuge, wiederholte Richard I. von England 1192 bei Joppe diesen<lb/>
Versuch mit dem gleichen überraschenden Erfolge. In seiner Stell-<lb/>
ordnung, die er den alten Regeln der Griechen, des Atheners Cha-<lb/>
brias, entlehnte, äu&#x017F;sert sich deutlich die zur Zeit allgemein geteilte<lb/>
Überzeugung, da&#x017F;s die Kriegskunst seit dem Zusammenbruche des<lb/>
Römerreiches auf Abwege geraten, da&#x017F;s sie da wieder aufgenommen<lb/>
werden müsse, wo sie abgebrochen war.</p><lb/>
          <p>Aber von der Erkenntnis bis zur allgemeinen Durchführung war<lb/>
noch ein weiter Raum. Die innere politische Verfassung, das noch<lb/>
immer kräftige Lehenswesen, das mit dem ganzen Kriegswesen im<lb/>
innigen Verbande war, lie&#x017F;s eine Änderung in der Streitweise nicht<lb/>
zu; nach Europa zurückgekehrt, war auch die Notwendigkeit einer<lb/>
solchen weniger gefühlt; da traf doch ein Lehensheer wieder das<lb/>
andere; nur in Italien und gegen die Städte war Vorsicht nötig, aber<lb/>
der Krieg gegen diese bestand doch zumeist in Belagerungen. Im<lb/>
Norden Europas wurde der Krieg allerdings nur von einem tüchtigen<lb/>
Fu&#x017F;svolke geführt, wie unter den Stedingern und Friesen, aber die<lb/>
Ereignisse dortselbst waren doch zu wenig bedeutend, um Aufmerk-<lb/>
samkeit zu erregen. Eine überraschende Katastrophe mu&#x017F;ste kommen,<lb/>
um eine Umänderung der Organisation und Streitweise in Aus-<lb/>
führung zu bringen.</p><lb/>
          <p>Je mehr die Lehenschaft ihre Wichtigkeit fühlte, desto mehr<lb/>
suchte der einzelne darin seinen Wert und seine Unentbehrlichkeit<lb/>
festzustellen. Diese übertriebene Selbstschätzung führte zu einer Zeit,<lb/>
als schon die ersten Symptome einer Verrückung des bisherigen<lb/>
Schwerpunktes in den Waffengattungen wahrnehmbar wurden, zu<lb/>
einer ebenso übertrieben schweren Bewaffnung. Der einzelne wollte<lb/>
nicht allein als Held, sondern auch »absolut unverwundbar« erscheinen;<lb/>
das führte zu einer ungemein schweren Ausrüstung des Reiters mit<lb/>
Topfhelm und anderen Schutzwaffen, die auf dem orientalischen<lb/>
Kriegstheater im argen Mi&#x017F;sverhältnisse mit dem Klima daselbst und<lb/>
der eigenartigen Fechtweise des Feindes stand. Was nützte die all-<lb/>
mähliche Verkürzung des gewichtigen Haubert, die Verbe&#x017F;serung des<lb/>
Schutzes der Beine, die dadurch ermöglichte Verkleinerung des<lb/>
Schildes, wenn die Notwendigkeit hinwieder zur Verstärkung des Leib-<lb/>
harnisches durch immer grö&#x017F;sere Eisenplatten zwang? Der Reiter<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0028] Einleitung. vom Beginne an eine vollkommen geänderte Taktik zu empfehlen. Nicht nur aus dieser Ursache, sondern durch die ungünstigen Boden- verhältnisse veranlaſst, muſste dem Fuſsvolke schon im ersten Kreuz- zuge ein bedeutenderer Wirkungskreis eingeräumt werden, als ihm bisher vergönnt war. Die schweren Reiterscharen der Europäer konnten nur im geraden Stoſse eine Wirkung erreichen. Schon bei Antiochia (1097) hatten die Ritter aus Not es vorgezogen, dem An- griffe des Feindes zu Fuſs zu begegnen, und hatten damit einen ungemeinen Erfolg erzielt. Hundert Jahre später, im dritten Kreuz- zuge, wiederholte Richard I. von England 1192 bei Joppe diesen Versuch mit dem gleichen überraschenden Erfolge. In seiner Stell- ordnung, die er den alten Regeln der Griechen, des Atheners Cha- brias, entlehnte, äuſsert sich deutlich die zur Zeit allgemein geteilte Überzeugung, daſs die Kriegskunst seit dem Zusammenbruche des Römerreiches auf Abwege geraten, daſs sie da wieder aufgenommen werden müsse, wo sie abgebrochen war. Aber von der Erkenntnis bis zur allgemeinen Durchführung war noch ein weiter Raum. Die innere politische Verfassung, das noch immer kräftige Lehenswesen, das mit dem ganzen Kriegswesen im innigen Verbande war, lieſs eine Änderung in der Streitweise nicht zu; nach Europa zurückgekehrt, war auch die Notwendigkeit einer solchen weniger gefühlt; da traf doch ein Lehensheer wieder das andere; nur in Italien und gegen die Städte war Vorsicht nötig, aber der Krieg gegen diese bestand doch zumeist in Belagerungen. Im Norden Europas wurde der Krieg allerdings nur von einem tüchtigen Fuſsvolke geführt, wie unter den Stedingern und Friesen, aber die Ereignisse dortselbst waren doch zu wenig bedeutend, um Aufmerk- samkeit zu erregen. Eine überraschende Katastrophe muſste kommen, um eine Umänderung der Organisation und Streitweise in Aus- führung zu bringen. Je mehr die Lehenschaft ihre Wichtigkeit fühlte, desto mehr suchte der einzelne darin seinen Wert und seine Unentbehrlichkeit festzustellen. Diese übertriebene Selbstschätzung führte zu einer Zeit, als schon die ersten Symptome einer Verrückung des bisherigen Schwerpunktes in den Waffengattungen wahrnehmbar wurden, zu einer ebenso übertrieben schweren Bewaffnung. Der einzelne wollte nicht allein als Held, sondern auch »absolut unverwundbar« erscheinen; das führte zu einer ungemein schweren Ausrüstung des Reiters mit Topfhelm und anderen Schutzwaffen, die auf dem orientalischen Kriegstheater im argen Miſsverhältnisse mit dem Klima daselbst und der eigenartigen Fechtweise des Feindes stand. Was nützte die all- mähliche Verkürzung des gewichtigen Haubert, die Verbeſserung des Schutzes der Beine, die dadurch ermöglichte Verkleinerung des Schildes, wenn die Notwendigkeit hinwieder zur Verstärkung des Leib- harnisches durch immer gröſsere Eisenplatten zwang? Der Reiter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boeheim_waffenkunde_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boeheim_waffenkunde_1890/28
Zitationshilfe: Boeheim, Wendelin: Handbuch der Waffenkunde. Leipzig, 1890, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boeheim_waffenkunde_1890/28>, abgerufen am 21.11.2024.