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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Schwerkraftstörungen beim Uranus "errechnet" haben, ohne ihn
zunächst unmittelbar zu sehen, so errechnet auch unsere biolo¬
gische Phantasie jenen vorkambrischen Strand mit seiner reinen
Bazillenliebe auch unter dem vollen Bewußtsein der Thatsache,
daß das Wissen greifbare geologische Spuren davon wahr¬
scheinlich niemals finden wird.

Jetzt aber, mein Lieber, entsteht eine verwickelte Situation.
Wir sind an dem Leitseil Darwins hinabgeklettert in den Schacht
der Jahrmillionen, so tief es ging. Vom Kompliziertesten zum
Einfachsten. Vom Menschen zum Bazillus. Wir sind über
das Wissen sogar hinausgeklettert mit der Theorie. Nun aber
stehen wir an einem kritischen Fleck. Darwin schüttelt uns die
Hand und geht. "Im Anfang war der Bazillus." Woher?

Du kennst die hübsche indische Legende. Die Welt ruht
auf einem Elefanten. Der Elefant steht auf einer Schildkröte.
Aber wer trägt nun die Schildkröte? Der Priester sagt:
das ist göttliches Mysterium.

So ständen wir denn jetzt auch mit dem Urbazillus auf
unserer Schildkröte. Das Wort Mysterium wird dich aber
kaum befriedigen.

Schließlich bleibt ja eines wahr. Auch der Naturforscher
mündet mit den letzten Weltfragen im Mysterium wenigstens in
dem Sinne, daß es da für sein Wissen schlechterdings pechschwarze
Nacht wird. Woher die ganze Welt im letzten Grunde auftaucht,
wie die großen grundlegenden Bewegungen im All angefangen
haben, was die uns sichtbaren Naturgesetze selber im Sinne von
"Entwickelungen" darstellen: das rutscht für ihn in die große Ver¬
senkung allgemein erkenntnistheoretischer Fragen. Was praktisch
wirklich nichts viel anderes besagt, als es rutscht ins Geheimnis.

Aber das Mißliche ist, daß anscheinend dieser weiteste
Begriff des "Letzten" in der Natur noch gar nicht auf unseren
Bazillenstrand zutreffen will.

Er lag auf der Erde. Mag die Erdoberfläche damals
noch so anders gewesen sein, als heute, was Verteilung von

Schwerkraftſtörungen beim Uranus „errechnet“ haben, ohne ihn
zunächſt unmittelbar zu ſehen, ſo errechnet auch unſere biolo¬
giſche Phantaſie jenen vorkambriſchen Strand mit ſeiner reinen
Bazillenliebe auch unter dem vollen Bewußtſein der Thatſache,
daß das Wiſſen greifbare geologiſche Spuren davon wahr¬
ſcheinlich niemals finden wird.

Jetzt aber, mein Lieber, entſteht eine verwickelte Situation.
Wir ſind an dem Leitſeil Darwins hinabgeklettert in den Schacht
der Jahrmillionen, ſo tief es ging. Vom Komplizierteſten zum
Einfachſten. Vom Menſchen zum Bazillus. Wir ſind über
das Wiſſen ſogar hinausgeklettert mit der Theorie. Nun aber
ſtehen wir an einem kritiſchen Fleck. Darwin ſchüttelt uns die
Hand und geht. „Im Anfang war der Bazillus.“ Woher?

Du kennſt die hübſche indiſche Legende. Die Welt ruht
auf einem Elefanten. Der Elefant ſteht auf einer Schildkröte.
Aber wer trägt nun die Schildkröte? Der Prieſter ſagt:
das iſt göttliches Myſterium.

So ſtänden wir denn jetzt auch mit dem Urbazillus auf
unſerer Schildkröte. Das Wort Myſterium wird dich aber
kaum befriedigen.

Schließlich bleibt ja eines wahr. Auch der Naturforſcher
mündet mit den letzten Weltfragen im Myſterium wenigſtens in
dem Sinne, daß es da für ſein Wiſſen ſchlechterdings pechſchwarze
Nacht wird. Woher die ganze Welt im letzten Grunde auftaucht,
wie die großen grundlegenden Bewegungen im All angefangen
haben, was die uns ſichtbaren Naturgeſetze ſelber im Sinne von
„Entwickelungen“ darſtellen: das rutſcht für ihn in die große Ver¬
ſenkung allgemein erkenntnistheoretiſcher Fragen. Was praktiſch
wirklich nichts viel anderes beſagt, als es rutſcht ins Geheimnis.

Aber das Mißliche iſt, daß anſcheinend dieſer weiteſte
Begriff des „Letzten“ in der Natur noch gar nicht auf unſeren
Bazillenſtrand zutreffen will.

Er lag auf der Erde. Mag die Erdoberfläche damals
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[100/0116] Schwerkraftſtörungen beim Uranus „errechnet“ haben, ohne ihn zunächſt unmittelbar zu ſehen, ſo errechnet auch unſere biolo¬ giſche Phantaſie jenen vorkambriſchen Strand mit ſeiner reinen Bazillenliebe auch unter dem vollen Bewußtſein der Thatſache, daß das Wiſſen greifbare geologiſche Spuren davon wahr¬ ſcheinlich niemals finden wird. Jetzt aber, mein Lieber, entſteht eine verwickelte Situation. Wir ſind an dem Leitſeil Darwins hinabgeklettert in den Schacht der Jahrmillionen, ſo tief es ging. Vom Komplizierteſten zum Einfachſten. Vom Menſchen zum Bazillus. Wir ſind über das Wiſſen ſogar hinausgeklettert mit der Theorie. Nun aber ſtehen wir an einem kritiſchen Fleck. Darwin ſchüttelt uns die Hand und geht. „Im Anfang war der Bazillus.“ Woher? Du kennſt die hübſche indiſche Legende. Die Welt ruht auf einem Elefanten. Der Elefant ſteht auf einer Schildkröte. Aber wer trägt nun die Schildkröte? Der Prieſter ſagt: das iſt göttliches Myſterium. So ſtänden wir denn jetzt auch mit dem Urbazillus auf unſerer Schildkröte. Das Wort Myſterium wird dich aber kaum befriedigen. Schließlich bleibt ja eines wahr. Auch der Naturforſcher mündet mit den letzten Weltfragen im Myſterium wenigſtens in dem Sinne, daß es da für ſein Wiſſen ſchlechterdings pechſchwarze Nacht wird. Woher die ganze Welt im letzten Grunde auftaucht, wie die großen grundlegenden Bewegungen im All angefangen haben, was die uns ſichtbaren Naturgeſetze ſelber im Sinne von „Entwickelungen“ darſtellen: das rutſcht für ihn in die große Ver¬ ſenkung allgemein erkenntnistheoretiſcher Fragen. Was praktiſch wirklich nichts viel anderes beſagt, als es rutſcht ins Geheimnis. Aber das Mißliche iſt, daß anſcheinend dieſer weiteſte Begriff des „Letzten“ in der Natur noch gar nicht auf unſeren Bazillenſtrand zutreffen will. Er lag auf der Erde. Mag die Erdoberfläche damals noch ſo anders geweſen ſein, als heute, was Verteilung von

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/116>, abgerufen am 25.11.2024.