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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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irgend erinnern könnte. Nimm die kleine Zellenkugel bloß als
einzelnes Geschöpfchen von heute, unter dieser deiner Sonne,
die auch dich in ihr Goldnetz spannt, als grünes Pünktchen,
das in dieser Minute durch die kristallblaue Flut hier lustig
dahinfegt. Wie ist dieses Geschöpfchen individuell, für sich,
"entstanden"? Vor relativ sehr kurzer Zeit war es noch eine
einzelne Zelle, eine träge Eizelle. Zu dieser einzelnen Zelle
kam eine noch winzigere zweite Einzelzelle: eine bewegliche
Samenzelle. Die beiden Zellen verschmolzen und erzeugten
aus sich durch Spaltung eine Schar neuer Einzeller. Diese
Schar neuer Einzeller blieb zu einem sozialen Verbande bei¬
sammen. Und in diesem entstand eine gewisse Arbeitsteilung,
die jetzt in der Volvoxkugel unter anderem gleich dazu führen
wird, daß einige Zellen wieder sich zu Eizellen abspalten und
den Kreislauf der Fortpflanzung neu einleiten.

Ja, -- sind diese beiden Vorgänge, der eine uralt, schon
in vorkambrischer Zeit lange vor Existenz des Menschen ver¬
mutlich einmal geschichtlich vollzogen -- und der andere ganz
neu, alle Augenblicke sich noch jetzt vor Menschenaugen wieder
und wieder so abspielend: sind sie nicht geradezu einander gleich?

Sie sind es. Jede Volvoxkugel durchläuft in ihrer in¬
dividuellen Entwickelung heute noch genau dieselbe kleine Kette
von Vorgängen und Formen, die in Urtagen auftraten, als
sich überhaupt zum erstenmal aus einzelligen Urwesen Volvox¬
kugeln wirklich geschichtlich heraus entwickelten.

Nur ein einziger fester Unterschied besteht. Was heute
bei der Volvoxkugel ganz schnell und in glattestem Tempo
hintereinander abschnurrt wie eine losrollende Uhrfeder, das
ist in alten Tagen, bei der wirklichen Erstentwickelung, ganz
langsam wahrscheinlich in einer ganz ungeheuerlich langen Folge
von Generationen erst Stück für Stück so eingetreten. Ganz,
ganz langsam mußte jene Urfolge von Generationen jede Station
dazu erst unter tausend Verwickelungen und Hindernissen finden, --
ganz langsam mußte Generation auf Generation erst die ein¬

irgend erinnern könnte. Nimm die kleine Zellenkugel bloß als
einzelnes Geſchöpfchen von heute, unter dieſer deiner Sonne,
die auch dich in ihr Goldnetz ſpannt, als grünes Pünktchen,
das in dieſer Minute durch die kriſtallblaue Flut hier luſtig
dahinfegt. Wie iſt dieſes Geſchöpfchen individuell, für ſich,
„entſtanden“? Vor relativ ſehr kurzer Zeit war es noch eine
einzelne Zelle, eine träge Eizelle. Zu dieſer einzelnen Zelle
kam eine noch winzigere zweite Einzelzelle: eine bewegliche
Samenzelle. Die beiden Zellen verſchmolzen und erzeugten
aus ſich durch Spaltung eine Schar neuer Einzeller. Dieſe
Schar neuer Einzeller blieb zu einem ſozialen Verbande bei¬
ſammen. Und in dieſem entſtand eine gewiſſe Arbeitsteilung,
die jetzt in der Volvoxkugel unter anderem gleich dazu führen
wird, daß einige Zellen wieder ſich zu Eizellen abſpalten und
den Kreislauf der Fortpflanzung neu einleiten.

Ja, — ſind dieſe beiden Vorgänge, der eine uralt, ſchon
in vorkambriſcher Zeit lange vor Exiſtenz des Menſchen ver¬
mutlich einmal geſchichtlich vollzogen — und der andere ganz
neu, alle Augenblicke ſich noch jetzt vor Menſchenaugen wieder
und wieder ſo abſpielend: ſind ſie nicht geradezu einander gleich?

Sie ſind es. Jede Volvoxkugel durchläuft in ihrer in¬
dividuellen Entwickelung heute noch genau dieſelbe kleine Kette
von Vorgängen und Formen, die in Urtagen auftraten, als
ſich überhaupt zum erſtenmal aus einzelligen Urweſen Volvox¬
kugeln wirklich geſchichtlich heraus entwickelten.

Nur ein einziger feſter Unterſchied beſteht. Was heute
bei der Volvoxkugel ganz ſchnell und in glatteſtem Tempo
hintereinander abſchnurrt wie eine losrollende Uhrfeder, das
iſt in alten Tagen, bei der wirklichen Erſtentwickelung, ganz
langſam wahrſcheinlich in einer ganz ungeheuerlich langen Folge
von Generationen erſt Stück für Stück ſo eingetreten. Ganz,
ganz langſam mußte jene Urfolge von Generationen jede Station
dazu erſt unter tauſend Verwickelungen und Hinderniſſen finden, —
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[191/0207] irgend erinnern könnte. Nimm die kleine Zellenkugel bloß als einzelnes Geſchöpfchen von heute, unter dieſer deiner Sonne, die auch dich in ihr Goldnetz ſpannt, als grünes Pünktchen, das in dieſer Minute durch die kriſtallblaue Flut hier luſtig dahinfegt. Wie iſt dieſes Geſchöpfchen individuell, für ſich, „entſtanden“? Vor relativ ſehr kurzer Zeit war es noch eine einzelne Zelle, eine träge Eizelle. Zu dieſer einzelnen Zelle kam eine noch winzigere zweite Einzelzelle: eine bewegliche Samenzelle. Die beiden Zellen verſchmolzen und erzeugten aus ſich durch Spaltung eine Schar neuer Einzeller. Dieſe Schar neuer Einzeller blieb zu einem ſozialen Verbande bei¬ ſammen. Und in dieſem entſtand eine gewiſſe Arbeitsteilung, die jetzt in der Volvoxkugel unter anderem gleich dazu führen wird, daß einige Zellen wieder ſich zu Eizellen abſpalten und den Kreislauf der Fortpflanzung neu einleiten. Ja, — ſind dieſe beiden Vorgänge, der eine uralt, ſchon in vorkambriſcher Zeit lange vor Exiſtenz des Menſchen ver¬ mutlich einmal geſchichtlich vollzogen — und der andere ganz neu, alle Augenblicke ſich noch jetzt vor Menſchenaugen wieder und wieder ſo abſpielend: ſind ſie nicht geradezu einander gleich? Sie ſind es. Jede Volvoxkugel durchläuft in ihrer in¬ dividuellen Entwickelung heute noch genau dieſelbe kleine Kette von Vorgängen und Formen, die in Urtagen auftraten, als ſich überhaupt zum erſtenmal aus einzelligen Urweſen Volvox¬ kugeln wirklich geſchichtlich heraus entwickelten. Nur ein einziger feſter Unterſchied beſteht. Was heute bei der Volvoxkugel ganz ſchnell und in glatteſtem Tempo hintereinander abſchnurrt wie eine losrollende Uhrfeder, das iſt in alten Tagen, bei der wirklichen Erſtentwickelung, ganz langſam wahrſcheinlich in einer ganz ungeheuerlich langen Folge von Generationen erſt Stück für Stück ſo eingetreten. Ganz, ganz langſam mußte jene Urfolge von Generationen jede Station dazu erſt unter tauſend Verwickelungen und Hinderniſſen finden, — ganz langſam mußte Generation auf Generation erſt die ein¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/207>, abgerufen am 21.11.2024.