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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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zelnen Stufen entdecken, mußte sich in sie einlernen, mußte sie
"erwerben". Die heutige Volvoxkugel steht zu diesen alten
Generationen offenbarlich in dem Verhältnis des Erbenden
zum Erwerbenden. Die ganze Entwickelungskette ist ihrem
Geschlecht heute "vererbt", sie ist ihm wie ein beliebiges Stück
seiner ganzen Existenz heute einfach in Fleisch und Blut über¬
gegangen, sie ist ihm wie eine uralte Stammestradition gleich¬
sam von Beginn an unfehlbar eingelernt, eingebläut, als blinde
Reflexhandlung eingepumpt. Sobald der Volvox aus sich wieder
eine Samenzelle produziert, eine lose Einzelzelle, ist es, als
stürze über diese Zelle eine zähe uralte Erinnerung als wahre
Zwangsvorstellung herein: sie kann gar nicht anders, sie muß.
wieder den alten Weg geradeaus laufen bis zur richtigen
Volvoxkugel hinauf. Abermals ist es jene geheimnisvolle
Grundthatsache des Lebens, die "Vererbung", die dir hierbei
auftaucht. Aber sie taucht dir diesmal an einer Stelle auf,
wo über die Thatsache selber schlechterdings kein Zweifel besteht.

Versuche es doch, die einfache Thatsache, die dich die
Volvoxkugel lehrt, einmal in eine Art Lehrsatz, ein "Gesetz"
zu fassen. Jede einzelne Volvoxkugel von heute, würdest du
wohl etwa sagen, durchläuft in ihrer individuellen Entwickelung
ganz rasch und gleichsam automatisch nochmals dieselben Ent¬
wickelungsstufen, die ihre Vorfahren geschichtlich voreinst durch¬
laufen haben, als sie sich überhaupt zur Volvoxkugel entwickelten.

Du siehst aus dem ganzen Verlauf der Dinge, wie ich sie
dir vorgetragen, daß in diesem "Gesetz" keinerlei Hexerei steckt.
Das einzige etwas Dunkle ist die "Vererbung" selbst, aber
hier stehst du, daran wollen wir einstweilen mal festhalten,
eben wieder vor so einer Grundsache wie bei Fressen, Wachs¬
tum, Selbstteilung, Liebesverschmelzung und ähnlichem. Ich
denke mir, gerade das Volvoxbeispiel ist so beschaffen, daß
du dir gar nicht eigentlich vorstellen kannst, wie die Sache denn
anders gehen sollte.

zelnen Stufen entdecken, mußte ſich in ſie einlernen, mußte ſie
„erwerben“. Die heutige Volvoxkugel ſteht zu dieſen alten
Generationen offenbarlich in dem Verhältnis des Erbenden
zum Erwerbenden. Die ganze Entwickelungskette iſt ihrem
Geſchlecht heute „vererbt“, ſie iſt ihm wie ein beliebiges Stück
ſeiner ganzen Exiſtenz heute einfach in Fleiſch und Blut über¬
gegangen, ſie iſt ihm wie eine uralte Stammestradition gleich¬
ſam von Beginn an unfehlbar eingelernt, eingebläut, als blinde
Reflexhandlung eingepumpt. Sobald der Volvox aus ſich wieder
eine Samenzelle produziert, eine loſe Einzelzelle, iſt es, als
ſtürze über dieſe Zelle eine zähe uralte Erinnerung als wahre
Zwangsvorſtellung herein: ſie kann gar nicht anders, ſie muß.
wieder den alten Weg geradeaus laufen bis zur richtigen
Volvoxkugel hinauf. Abermals iſt es jene geheimnisvolle
Grundthatſache des Lebens, die „Vererbung“, die dir hierbei
auftaucht. Aber ſie taucht dir diesmal an einer Stelle auf,
wo über die Thatſache ſelber ſchlechterdings kein Zweifel beſteht.

Verſuche es doch, die einfache Thatſache, die dich die
Volvoxkugel lehrt, einmal in eine Art Lehrſatz, ein „Geſetz“
zu faſſen. Jede einzelne Volvoxkugel von heute, würdeſt du
wohl etwa ſagen, durchläuft in ihrer individuellen Entwickelung
ganz raſch und gleichſam automatiſch nochmals dieſelben Ent¬
wickelungsſtufen, die ihre Vorfahren geſchichtlich voreinſt durch¬
laufen haben, als ſie ſich überhaupt zur Volvoxkugel entwickelten.

Du ſiehſt aus dem ganzen Verlauf der Dinge, wie ich ſie
dir vorgetragen, daß in dieſem „Geſetz“ keinerlei Hexerei ſteckt.
Das einzige etwas Dunkle iſt die „Vererbung“ ſelbſt, aber
hier ſtehſt du, daran wollen wir einſtweilen mal feſthalten,
eben wieder vor ſo einer Grundſache wie bei Freſſen, Wachs¬
tum, Selbſtteilung, Liebesverſchmelzung und ähnlichem. Ich
denke mir, gerade das Volvoxbeiſpiel iſt ſo beſchaffen, daß
du dir gar nicht eigentlich vorſtellen kannſt, wie die Sache denn
anders gehen ſollte.

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[192/0208] zelnen Stufen entdecken, mußte ſich in ſie einlernen, mußte ſie „erwerben“. Die heutige Volvoxkugel ſteht zu dieſen alten Generationen offenbarlich in dem Verhältnis des Erbenden zum Erwerbenden. Die ganze Entwickelungskette iſt ihrem Geſchlecht heute „vererbt“, ſie iſt ihm wie ein beliebiges Stück ſeiner ganzen Exiſtenz heute einfach in Fleiſch und Blut über¬ gegangen, ſie iſt ihm wie eine uralte Stammestradition gleich¬ ſam von Beginn an unfehlbar eingelernt, eingebläut, als blinde Reflexhandlung eingepumpt. Sobald der Volvox aus ſich wieder eine Samenzelle produziert, eine loſe Einzelzelle, iſt es, als ſtürze über dieſe Zelle eine zähe uralte Erinnerung als wahre Zwangsvorſtellung herein: ſie kann gar nicht anders, ſie muß. wieder den alten Weg geradeaus laufen bis zur richtigen Volvoxkugel hinauf. Abermals iſt es jene geheimnisvolle Grundthatſache des Lebens, die „Vererbung“, die dir hierbei auftaucht. Aber ſie taucht dir diesmal an einer Stelle auf, wo über die Thatſache ſelber ſchlechterdings kein Zweifel beſteht. Verſuche es doch, die einfache Thatſache, die dich die Volvoxkugel lehrt, einmal in eine Art Lehrſatz, ein „Geſetz“ zu faſſen. Jede einzelne Volvoxkugel von heute, würdeſt du wohl etwa ſagen, durchläuft in ihrer individuellen Entwickelung ganz raſch und gleichſam automatiſch nochmals dieſelben Ent¬ wickelungsſtufen, die ihre Vorfahren geſchichtlich voreinſt durch¬ laufen haben, als ſie ſich überhaupt zur Volvoxkugel entwickelten. Du ſiehſt aus dem ganzen Verlauf der Dinge, wie ich ſie dir vorgetragen, daß in dieſem „Geſetz“ keinerlei Hexerei ſteckt. Das einzige etwas Dunkle iſt die „Vererbung“ ſelbſt, aber hier ſtehſt du, daran wollen wir einſtweilen mal feſthalten, eben wieder vor ſo einer Grundſache wie bei Freſſen, Wachs¬ tum, Selbſtteilung, Liebesverſchmelzung und ähnlichem. Ich denke mir, gerade das Volvoxbeiſpiel iſt ſo beſchaffen, daß du dir gar nicht eigentlich vorſtellen kannſt, wie die Sache denn anders gehen ſollte.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/208>, abgerufen am 21.11.2024.