Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

eingeführt, daß z. B. dieser für viele die Schuhe sohlt, dieser
die Zeitung schreibt und jener die Bockwürste herrichtet. Jeder
Liebesbund von zwei Menschen ist ja auch nur ein solches Zu¬
sammenhalten. Niemals aber geschieht es nun deswegen, daß
ganze Menschenindividuen thatsächlich wieder aneinander
wüchsen
wie Zellen. Auch der kühnste Staatsverband schafft
keinen wirklichen Briareus mit hundert Köpfen und hundert
Armen. Auch die konsequenteste Genossenschaft führt nicht zum
Menschen-Rattenkönig, wo fünfzig oder mehr Individuen mit
den Hinterleibern aneinander wüchsen. Und selbst die brennendste
Liebe, die sich gegenseitig fressen möchte, läßt Mann und Weib
nicht dauernd als Ganzes zum geschlechtlichen Doppeltier ver¬
schmelzen.

Mit diesen vier Grundsätzen bepackt sollst du jetzt an ein
Zauberschloß klopfen. Es ist kristallblau, und schöne bunte
durchsichtige Elfen hausen darin. Die einen sitzen wie prächtige
Blütenkelche am Boden. Die anderen schwimmen wie große
schimmernde Glocken offen durch den blauen Glast. Du bist
bei Polypen und Medusen. Und nun lege deine vier Sätze
als Elle an und miß.

Schon der kleine grüne Hydrapolyp im Süßwasser wirft
deinen ersten Menschensatz um. Dasselbe Individuum entwickelt
vorne, nahe dem Kranz von Mundärmchen, Samen und weiter
hinten ein Ei. Natürlich muß die Befruchtung wechselseitig,
zwischen den Produkten zweier Individuen stattfinden, -- du
kennst ja jetzt das geheime Gesetz der Inzucht. Aber es bleibt
der riesige Unterschied gegen dich. Die kleine Hydra braucht
sich übrigens, um die Sache noch viel verwickelter zu machen,
überhaupt noch gar nicht ausschließlich geschlechtlich zu ver¬
mehren. Jenem Urzustande in unserer Zwergengeschichte noch

14*

eingeführt, daß z. B. dieſer für viele die Schuhe ſohlt, dieſer
die Zeitung ſchreibt und jener die Bockwürſte herrichtet. Jeder
Liebesbund von zwei Menſchen iſt ja auch nur ein ſolches Zu¬
ſammenhalten. Niemals aber geſchieht es nun deswegen, daß
ganze Menſchenindividuen thatſächlich wieder aneinander
wüchſen
wie Zellen. Auch der kühnſte Staatsverband ſchafft
keinen wirklichen Briareus mit hundert Köpfen und hundert
Armen. Auch die konſequenteſte Genoſſenſchaft führt nicht zum
Menſchen-Rattenkönig, wo fünfzig oder mehr Individuen mit
den Hinterleibern aneinander wüchſen. Und ſelbſt die brennendſte
Liebe, die ſich gegenſeitig freſſen möchte, läßt Mann und Weib
nicht dauernd als Ganzes zum geſchlechtlichen Doppeltier ver¬
ſchmelzen.

Mit dieſen vier Grundſätzen bepackt ſollſt du jetzt an ein
Zauberſchloß klopfen. Es iſt kriſtallblau, und ſchöne bunte
durchſichtige Elfen hauſen darin. Die einen ſitzen wie prächtige
Blütenkelche am Boden. Die anderen ſchwimmen wie große
ſchimmernde Glocken offen durch den blauen Glaſt. Du biſt
bei Polypen und Meduſen. Und nun lege deine vier Sätze
als Elle an und miß.

Schon der kleine grüne Hydrapolyp im Süßwaſſer wirft
deinen erſten Menſchenſatz um. Dasſelbe Individuum entwickelt
vorne, nahe dem Kranz von Mundärmchen, Samen und weiter
hinten ein Ei. Natürlich muß die Befruchtung wechſelſeitig,
zwiſchen den Produkten zweier Individuen ſtattfinden, — du
kennſt ja jetzt das geheime Geſetz der Inzucht. Aber es bleibt
der rieſige Unterſchied gegen dich. Die kleine Hydra braucht
ſich übrigens, um die Sache noch viel verwickelter zu machen,
überhaupt noch gar nicht ausſchließlich geſchlechtlich zu ver¬
mehren. Jenem Urzuſtande in unſerer Zwergengeſchichte noch

14*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0227" n="211"/>
eingeführt, daß z. B. die&#x017F;er für viele die Schuhe &#x017F;ohlt, die&#x017F;er<lb/>
die Zeitung &#x017F;chreibt und jener die Bockwür&#x017F;te herrichtet. Jeder<lb/>
Liebesbund von zwei Men&#x017F;chen i&#x017F;t ja auch nur ein &#x017F;olches Zu¬<lb/>
&#x017F;ammenhalten. Niemals aber ge&#x017F;chieht es nun deswegen, daß<lb/><hi rendition="#g">ganze Men&#x017F;chenindividuen</hi> that&#x017F;ächlich wieder <hi rendition="#g">aneinander<lb/>
wüch&#x017F;en</hi> wie Zellen. Auch der kühn&#x017F;te Staatsverband &#x017F;chafft<lb/>
keinen wirklichen Briareus mit hundert Köpfen und hundert<lb/>
Armen. Auch die kon&#x017F;equente&#x017F;te Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft führt nicht zum<lb/>
Men&#x017F;chen-Rattenkönig, wo fünfzig oder mehr Individuen mit<lb/>
den Hinterleibern aneinander wüch&#x017F;en. Und &#x017F;elb&#x017F;t die brennend&#x017F;te<lb/>
Liebe, die &#x017F;ich gegen&#x017F;eitig fre&#x017F;&#x017F;en möchte, läßt Mann und Weib<lb/>
nicht dauernd als Ganzes zum ge&#x017F;chlechtlichen Doppeltier ver¬<lb/>
&#x017F;chmelzen.</p><lb/>
        <p>Mit die&#x017F;en vier Grund&#x017F;ätzen bepackt &#x017F;oll&#x017F;t du jetzt an ein<lb/>
Zauber&#x017F;chloß klopfen. Es i&#x017F;t kri&#x017F;tallblau, und &#x017F;chöne bunte<lb/>
durch&#x017F;ichtige Elfen hau&#x017F;en darin. Die einen &#x017F;itzen wie prächtige<lb/>
Blütenkelche am Boden. Die anderen &#x017F;chwimmen wie große<lb/>
&#x017F;chimmernde Glocken offen durch den blauen Gla&#x017F;t. Du bi&#x017F;t<lb/>
bei Polypen und Medu&#x017F;en. Und nun lege deine vier Sätze<lb/>
als Elle an und miß.</p><lb/>
        <p>Schon der kleine grüne Hydrapolyp im Süßwa&#x017F;&#x017F;er wirft<lb/>
deinen er&#x017F;ten Men&#x017F;chen&#x017F;atz um. Das&#x017F;elbe Individuum entwickelt<lb/>
vorne, nahe dem Kranz von Mundärmchen, Samen und weiter<lb/>
hinten ein Ei. Natürlich muß die Befruchtung wech&#x017F;el&#x017F;eitig,<lb/>
zwi&#x017F;chen den Produkten <hi rendition="#g">zweier</hi> Individuen &#x017F;tattfinden, &#x2014; du<lb/>
kenn&#x017F;t ja jetzt das geheime Ge&#x017F;etz der Inzucht. Aber es bleibt<lb/>
der rie&#x017F;ige Unter&#x017F;chied gegen dich. Die kleine Hydra braucht<lb/>
&#x017F;ich übrigens, um die Sache noch viel verwickelter zu machen,<lb/>
überhaupt noch gar nicht aus&#x017F;chließlich ge&#x017F;chlechtlich zu ver¬<lb/>
mehren. Jenem Urzu&#x017F;tande in un&#x017F;erer Zwergenge&#x017F;chichte noch<lb/><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">14*<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[211/0227] eingeführt, daß z. B. dieſer für viele die Schuhe ſohlt, dieſer die Zeitung ſchreibt und jener die Bockwürſte herrichtet. Jeder Liebesbund von zwei Menſchen iſt ja auch nur ein ſolches Zu¬ ſammenhalten. Niemals aber geſchieht es nun deswegen, daß ganze Menſchenindividuen thatſächlich wieder aneinander wüchſen wie Zellen. Auch der kühnſte Staatsverband ſchafft keinen wirklichen Briareus mit hundert Köpfen und hundert Armen. Auch die konſequenteſte Genoſſenſchaft führt nicht zum Menſchen-Rattenkönig, wo fünfzig oder mehr Individuen mit den Hinterleibern aneinander wüchſen. Und ſelbſt die brennendſte Liebe, die ſich gegenſeitig freſſen möchte, läßt Mann und Weib nicht dauernd als Ganzes zum geſchlechtlichen Doppeltier ver¬ ſchmelzen. Mit dieſen vier Grundſätzen bepackt ſollſt du jetzt an ein Zauberſchloß klopfen. Es iſt kriſtallblau, und ſchöne bunte durchſichtige Elfen hauſen darin. Die einen ſitzen wie prächtige Blütenkelche am Boden. Die anderen ſchwimmen wie große ſchimmernde Glocken offen durch den blauen Glaſt. Du biſt bei Polypen und Meduſen. Und nun lege deine vier Sätze als Elle an und miß. Schon der kleine grüne Hydrapolyp im Süßwaſſer wirft deinen erſten Menſchenſatz um. Dasſelbe Individuum entwickelt vorne, nahe dem Kranz von Mundärmchen, Samen und weiter hinten ein Ei. Natürlich muß die Befruchtung wechſelſeitig, zwiſchen den Produkten zweier Individuen ſtattfinden, — du kennſt ja jetzt das geheime Geſetz der Inzucht. Aber es bleibt der rieſige Unterſchied gegen dich. Die kleine Hydra braucht ſich übrigens, um die Sache noch viel verwickelter zu machen, überhaupt noch gar nicht ausſchließlich geſchlechtlich zu ver¬ mehren. Jenem Urzuſtande in unſerer Zwergengeſchichte noch 14*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/227
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/227>, abgerufen am 18.05.2024.