noch über allen gewohnten Rattenlärm geht. Endlich reißt dir die Geduld, du haust mit der Axt zu und brichst die Diele oder den morschen Balken auf. Da fährt ein Monstrum auf dich los, durch scheußliche Verkümmerung oder Krankheit in dem engen, schmutzigen Rattennest-Loch gebildet: an die zwanzig Ratten und mehr sind mit den langen Schwänzen so ineinander verflochten und verklebt, daß keine sich einzeln mehr von den anderen loswinden kann und so alle beisammen zwangsweise ihr Lebenlang einen siamesischen Zwanzigling bilden müssen. Das ist der berühmte "Rattenkönig".
In sich ist er gewiß keine Monarchie, sondern eine höchst unpraktische Zwangs-Republik, die als Ganzes schlechterdings wohl nur als zeitweise Krankheit im sonstigen anarchistisch freien Rattenleben auftritt. Aber male dir einmal wieder mit Phan¬ tasie aus, eine solche Rattenkolonie mit verwachsenen Schwänzen fühle sich thatsächlich wohl in ihrem Zustand. Und es stellte sich etwas Besonderes ein dadurch. Die Schwänze sollen so verschmelzen, daß der Blutkreislauf darin von einem Individuum zum anderen (und schließlich zu allen anderen) übertritt. Die Ratten stehen jetzt alle zwanzig zueinander in dem Verhältnis wie eine Mutter zu ihrem noch nicht geborenen Kinde. Das Kind erhält den Blutkreislauf der Mutter als solchen innerhalb der Gebärmutter noch mit. Es braucht also nicht besonders zu essen: das Mutterblut füttert es mit. Es braucht nicht be¬ sonders zu atmen: das Mutterblut reinigt und erneut sich für es mit, die Lunge der Mutter atmet für es mit. Wie, wenn nun in dem Sinne, den wir schon einmal bei den Urzellen be¬ obachtet haben, der eben genugsam durchblutete Ratten-Zwanzig¬ ender eines Tages dazu überginge, Arbeitsteilung unter seinen ganzen Individuen einzuführen?
Diese fünf Ratten sollen nur noch fressen und verdauen. Diese fünf nur noch beißen, wenn ein Feind sich naht. Und diese fünf nur noch laufen und die anderen mitziehen. Da jede auch außer jenen ersten fünfen Nährblut mitbekommt, so
noch über allen gewohnten Rattenlärm geht. Endlich reißt dir die Geduld, du hauſt mit der Axt zu und brichſt die Diele oder den morſchen Balken auf. Da fährt ein Monſtrum auf dich los, durch ſcheußliche Verkümmerung oder Krankheit in dem engen, ſchmutzigen Rattenneſt-Loch gebildet: an die zwanzig Ratten und mehr ſind mit den langen Schwänzen ſo ineinander verflochten und verklebt, daß keine ſich einzeln mehr von den anderen loswinden kann und ſo alle beiſammen zwangsweiſe ihr Lebenlang einen ſiameſiſchen Zwanzigling bilden müſſen. Das iſt der berühmte „Rattenkönig“.
In ſich iſt er gewiß keine Monarchie, ſondern eine höchſt unpraktiſche Zwangs-Republik, die als Ganzes ſchlechterdings wohl nur als zeitweiſe Krankheit im ſonſtigen anarchiſtiſch freien Rattenleben auftritt. Aber male dir einmal wieder mit Phan¬ taſie aus, eine ſolche Rattenkolonie mit verwachſenen Schwänzen fühle ſich thatſächlich wohl in ihrem Zuſtand. Und es ſtellte ſich etwas Beſonderes ein dadurch. Die Schwänze ſollen ſo verſchmelzen, daß der Blutkreislauf darin von einem Individuum zum anderen (und ſchließlich zu allen anderen) übertritt. Die Ratten ſtehen jetzt alle zwanzig zueinander in dem Verhältnis wie eine Mutter zu ihrem noch nicht geborenen Kinde. Das Kind erhält den Blutkreislauf der Mutter als ſolchen innerhalb der Gebärmutter noch mit. Es braucht alſo nicht beſonders zu eſſen: das Mutterblut füttert es mit. Es braucht nicht be¬ ſonders zu atmen: das Mutterblut reinigt und erneut ſich für es mit, die Lunge der Mutter atmet für es mit. Wie, wenn nun in dem Sinne, den wir ſchon einmal bei den Urzellen be¬ obachtet haben, der eben genugſam durchblutete Ratten-Zwanzig¬ ender eines Tages dazu überginge, Arbeitsteilung unter ſeinen ganzen Individuen einzuführen?
Dieſe fünf Ratten ſollen nur noch freſſen und verdauen. Dieſe fünf nur noch beißen, wenn ein Feind ſich naht. Und dieſe fünf nur noch laufen und die anderen mitziehen. Da jede auch außer jenen erſten fünfen Nährblut mitbekommt, ſo
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noch über allen gewohnten Rattenlärm geht. Endlich reißt dir
die Geduld, du hauſt mit der Axt zu und brichſt die Diele
oder den morſchen Balken auf. Da fährt ein Monſtrum auf
dich los, durch ſcheußliche Verkümmerung oder Krankheit in
dem engen, ſchmutzigen Rattenneſt-Loch gebildet: an die zwanzig
Ratten und mehr ſind mit den langen Schwänzen ſo ineinander
verflochten und verklebt, daß keine ſich einzeln mehr von den
anderen loswinden kann und ſo alle beiſammen zwangsweiſe
ihr Lebenlang einen ſiameſiſchen Zwanzigling bilden müſſen.
Das iſt der berühmte „Rattenkönig“.
In ſich iſt er gewiß keine Monarchie, ſondern eine höchſt
unpraktiſche Zwangs-Republik, die als Ganzes ſchlechterdings wohl
nur als zeitweiſe Krankheit im ſonſtigen anarchiſtiſch freien
Rattenleben auftritt. Aber male dir einmal wieder mit Phan¬
taſie aus, eine ſolche Rattenkolonie mit verwachſenen Schwänzen
fühle ſich thatſächlich wohl in ihrem Zuſtand. Und es ſtellte
ſich etwas Beſonderes ein dadurch. Die Schwänze ſollen ſo
verſchmelzen, daß der Blutkreislauf darin von einem Individuum
zum anderen (und ſchließlich zu allen anderen) übertritt. Die
Ratten ſtehen jetzt alle zwanzig zueinander in dem Verhältnis
wie eine Mutter zu ihrem noch nicht geborenen Kinde. Das
Kind erhält den Blutkreislauf der Mutter als ſolchen innerhalb
der Gebärmutter noch mit. Es braucht alſo nicht beſonders
zu eſſen: das Mutterblut füttert es mit. Es braucht nicht be¬
ſonders zu atmen: das Mutterblut reinigt und erneut ſich für
es mit, die Lunge der Mutter atmet für es mit. Wie, wenn
nun in dem Sinne, den wir ſchon einmal bei den Urzellen be¬
obachtet haben, der eben genugſam durchblutete Ratten-Zwanzig¬
ender eines Tages dazu überginge, Arbeitsteilung unter ſeinen
ganzen Individuen einzuführen?
Dieſe fünf Ratten ſollen nur noch freſſen und verdauen.
Dieſe fünf nur noch beißen, wenn ein Feind ſich naht. Und
dieſe fünf nur noch laufen und die anderen mitziehen. Da
jede auch außer jenen erſten fünfen Nährblut mitbekommt, ſo
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/237>, abgerufen am 24.11.2024.
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