Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Erst in dieser Tertiärzeit begann der Mensch. In all den
Jahrtausenden seines Emporganges, von der wilden Steinzeit
neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höchsten Weihe¬
stunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am einsamen Strom,
am stillen Bach dieser ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege
begleitet. Sie schwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht
auf, als er am Euphrat zuerst in den Sternen las, als er am
Nil über das Mysterium des Lebens sann, als er am Ilissos
eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor schuf zum
Ersatz für diese Welt des Kummers und der Dunkelheit.

Und immer dasselbe. Immer dieses Ersterben der In¬
dividuen für die Art, dieser gleiche Sinnentaumel, zusammen¬
gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, dieser jähe, dunkle
Wandel der Zwecke ... Jahrtausende, Jahrmillionen, Zeit¬
räume, in denen die Sternbilder sich verschieben, in denen das
Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der
Fixsterne, die leisen, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬
lungen der Erdbahn und Erdstellung sichtbar wie große Mark¬
steine werden: und alle zwei, drei Jahre in dieser unabseh¬
baren Folge zwei Stunden, in denen das Schicksal einer Gat¬
tung wie ein Wurfball geschleudert von einer Generation zur
folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum
fast im Augenblick seines Todes noch Weltgeschichte wird und
in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwischen
verschollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, längst ver¬
glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort sich herauf¬
schiebt bis auf diesen Tag.

Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬
seligt sich und stirbt.

Aber du, der einsame, späte, unendlich hoch verstiegene
Epigone all dieser niederen Tierheit, stehst am Ufer und starrst
den kleinen blassen Liebesleichen nach und sinnst, -- sinnst dem
Geheimnis nach in diesem Liebestanz und Totentanz .....

Was ist die Liebe?

Erſt in dieſer Tertiärzeit begann der Menſch. In all den
Jahrtauſenden ſeines Emporganges, von der wilden Steinzeit
neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höchſten Weihe¬
ſtunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am einſamen Strom,
am ſtillen Bach dieſer ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege
begleitet. Sie ſchwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht
auf, als er am Euphrat zuerſt in den Sternen las, als er am
Nil über das Myſterium des Lebens ſann, als er am Iliſſos
eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor ſchuf zum
Erſatz für dieſe Welt des Kummers und der Dunkelheit.

Und immer dasſelbe. Immer dieſes Erſterben der In¬
dividuen für die Art, dieſer gleiche Sinnentaumel, zuſammen¬
gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, dieſer jähe, dunkle
Wandel der Zwecke ... Jahrtauſende, Jahrmillionen, Zeit¬
räume, in denen die Sternbilder ſich verſchieben, in denen das
Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der
Fixſterne, die leiſen, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬
lungen der Erdbahn und Erdſtellung ſichtbar wie große Mark¬
ſteine werden: und alle zwei, drei Jahre in dieſer unabſeh¬
baren Folge zwei Stunden, in denen das Schickſal einer Gat¬
tung wie ein Wurfball geſchleudert von einer Generation zur
folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum
faſt im Augenblick ſeines Todes noch Weltgeſchichte wird und
in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwiſchen
verſchollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, längſt ver¬
glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort ſich herauf¬
ſchiebt bis auf dieſen Tag.

Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬
ſeligt ſich und ſtirbt.

Aber du, der einſame, ſpäte, unendlich hoch verſtiegene
Epigone all dieſer niederen Tierheit, ſtehſt am Ufer und ſtarrſt
den kleinen blaſſen Liebesleichen nach und ſinnſt, — ſinnſt dem
Geheimnis nach in dieſem Liebestanz und Totentanz .....

Was iſt die Liebe?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0031" n="15"/>
        <p>Er&#x017F;t in die&#x017F;er Tertiärzeit begann der Men&#x017F;ch. In all den<lb/>
Jahrtau&#x017F;enden &#x017F;eines Emporganges, von der wilden Steinzeit<lb/>
neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höch&#x017F;ten Weihe¬<lb/>
&#x017F;tunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am ein&#x017F;amen Strom,<lb/>
am &#x017F;tillen Bach die&#x017F;er ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege<lb/>
begleitet. Sie &#x017F;chwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht<lb/>
auf, als er am Euphrat zuer&#x017F;t in den Sternen las, als er am<lb/>
Nil über das My&#x017F;terium des Lebens &#x017F;ann, als er am Ili&#x017F;&#x017F;os<lb/>
eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor &#x017F;chuf zum<lb/>
Er&#x017F;atz für die&#x017F;e Welt des Kummers und der Dunkelheit.</p><lb/>
        <p>Und immer das&#x017F;elbe. Immer die&#x017F;es Er&#x017F;terben der In¬<lb/>
dividuen für die Art, die&#x017F;er gleiche Sinnentaumel, zu&#x017F;ammen¬<lb/>
gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, die&#x017F;er jähe, dunkle<lb/>
Wandel der Zwecke ... Jahrtau&#x017F;ende, Jahrmillionen, Zeit¬<lb/>
räume, in denen die Sternbilder &#x017F;ich ver&#x017F;chieben, in denen das<lb/>
Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der<lb/>
Fix&#x017F;terne, die lei&#x017F;en, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬<lb/>
lungen der Erdbahn und Erd&#x017F;tellung &#x017F;ichtbar wie große Mark¬<lb/>
&#x017F;teine werden: und alle zwei, drei Jahre in die&#x017F;er unab&#x017F;eh¬<lb/>
baren Folge zwei Stunden, in denen das Schick&#x017F;al einer Gat¬<lb/>
tung wie ein Wurfball ge&#x017F;chleudert von einer Generation zur<lb/>
folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum<lb/>
fa&#x017F;t im Augenblick &#x017F;eines Todes noch Weltge&#x017F;chichte wird und<lb/>
in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwi&#x017F;chen<lb/>
ver&#x017F;chollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, läng&#x017F;t ver¬<lb/>
glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort &#x017F;ich herauf¬<lb/>
&#x017F;chiebt bis auf die&#x017F;en Tag.</p><lb/>
        <p>Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬<lb/>
&#x017F;eligt &#x017F;ich und &#x017F;tirbt.</p><lb/>
        <p>Aber du, der ein&#x017F;ame, &#x017F;päte, unendlich hoch ver&#x017F;tiegene<lb/>
Epigone all die&#x017F;er niederen Tierheit, &#x017F;teh&#x017F;t am Ufer und &#x017F;tarr&#x017F;t<lb/>
den kleinen bla&#x017F;&#x017F;en Liebesleichen nach und &#x017F;inn&#x017F;t, &#x2014; &#x017F;inn&#x017F;t dem<lb/>
Geheimnis nach in die&#x017F;em Liebestanz und Totentanz .....</p><lb/>
        <p>Was i&#x017F;t die Liebe?</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0031] Erſt in dieſer Tertiärzeit begann der Menſch. In all den Jahrtauſenden ſeines Emporganges, von der wilden Steinzeit neben Mammut und Höhlenbär bis zu den höchſten Weihe¬ ſtunden aufgrünender Weltkultur, hat ihn am einſamen Strom, am ſtillen Bach dieſer ewig gleiche Kreislauf der Eintagsfliege begleitet. Sie ſchwärmte in zwei Stunden einer Mondnacht auf, als er am Euphrat zuerſt in den Sternen las, als er am Nil über das Myſterium des Lebens ſann, als er am Iliſſos eine höhere, lichte Welt aus Rhythmus und Marmor ſchuf zum Erſatz für dieſe Welt des Kummers und der Dunkelheit. Und immer dasſelbe. Immer dieſes Erſterben der In¬ dividuen für die Art, dieſer gleiche Sinnentaumel, zuſammen¬ gedrängt auf eine winzige Spanne Zeit, dieſer jähe, dunkle Wandel der Zwecke ... Jahrtauſende, Jahrmillionen, Zeit¬ räume, in denen die Sternbilder ſich verſchieben, in denen das Wandern der Sonne im Weltraum, die Eigenbewegung der Fixſterne, die leiſen, über ungeheure Zeiten verteilten Wand¬ lungen der Erdbahn und Erdſtellung ſichtbar wie große Mark¬ ſteine werden: und alle zwei, drei Jahre in dieſer unabſeh¬ baren Folge zwei Stunden, in denen das Schickſal einer Gat¬ tung wie ein Wurfball geſchleudert von einer Generation zur folgenden fliegt. Zwei Stunden, in denen das Individuum faſt im Augenblick ſeines Todes noch Weltgeſchichte wird und in eine Kette greift, die aus Urtagen der Schöpfung, zwiſchen verſchollenen Märchenwäldern, fremden Ungetümen, längſt ver¬ glühten oder weggewanderten Sternen, fort und fort ſich herauf¬ ſchiebt bis auf dieſen Tag. Die Eintagsfliege denkt nicht. Sie erwacht, taumelt, be¬ ſeligt ſich und ſtirbt. Aber du, der einſame, ſpäte, unendlich hoch verſtiegene Epigone all dieſer niederen Tierheit, ſtehſt am Ufer und ſtarrſt den kleinen blaſſen Liebesleichen nach und ſinnſt, — ſinnſt dem Geheimnis nach in dieſem Liebestanz und Totentanz ..... Was iſt die Liebe?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/31
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/31>, abgerufen am 21.11.2024.