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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Festhaften, Ankleben,
Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr so an der
Scholle festnistet, sondern zeitlebens als freies Individuum mit
jeweiliger schutzentsprechender Selbstbestimmung sich herum¬
bewegt, setzen wir den Tintenfisch hoch über die Auster. Und
im höchsten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬
tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachsenen
oder eingewurzelten Wesen mehr. Der Begattungsakt ist aber
nun überall eine letzte Stelle, wo wenigstens noch für einen
Moment eine solche Einwurzelei und Festhafterei auf alle Fälle
stattfinden soll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchsten
Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen
in Menge hervorruft. Der Mensch hat wohl ein Recht, von
diesem Intermezzo höheren tierischen Lebens zu sagen, was
Helmholtz vom menschlichen Auge sagte: alle Gesamtleistung
in Ehren, würde er doch einen menschlichen Mechanikus, der
ihm einen Apparat mit so viel Mängeln und überflüssigen
Erschwerungen gebracht hätte, als Stümper samt seinem Werk
in Schanden heimgeschickt haben. Solche "Unpraktischkeiten"
der Natur sind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen,
wie die Welt der tierischen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬
weisheit, sondern das Ergebnis unendlich langsamer, schwieriger
"Selbstmache" im Verlaufe ungezählter Generationen ist. Aber
in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf
alle Fälle. Im Tintenfisch sehen wir die Beweglichkeit des
Individuums um einen riesigen Ruck gegen die Auster etwa
erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit
einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen
bei der Begattung.

Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬
schlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im
Leibessack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der
Tintenmann hat da seinen Hoden (nur einen), in dem die
Samentierchen fabriziert werden, das Tintenweib seinen (eben¬

Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Feſthaften, Ankleben,
Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr ſo an der
Scholle feſtniſtet, ſondern zeitlebens als freies Individuum mit
jeweiliger ſchutzentſprechender Selbſtbeſtimmung ſich herum¬
bewegt, ſetzen wir den Tintenfiſch hoch über die Auſter. Und
im höchſten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬
tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachſenen
oder eingewurzelten Weſen mehr. Der Begattungsakt iſt aber
nun überall eine letzte Stelle, wo wenigſtens noch für einen
Moment eine ſolche Einwurzelei und Feſthafterei auf alle Fälle
ſtattfinden ſoll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchſten
Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen
in Menge hervorruft. Der Menſch hat wohl ein Recht, von
dieſem Intermezzo höheren tieriſchen Lebens zu ſagen, was
Helmholtz vom menſchlichen Auge ſagte: alle Geſamtleiſtung
in Ehren, würde er doch einen menſchlichen Mechanikus, der
ihm einen Apparat mit ſo viel Mängeln und überflüſſigen
Erſchwerungen gebracht hätte, als Stümper ſamt ſeinem Werk
in Schanden heimgeſchickt haben. Solche „Unpraktiſchkeiten“
der Natur ſind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen,
wie die Welt der tieriſchen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬
weisheit, ſondern das Ergebnis unendlich langſamer, ſchwieriger
„Selbſtmache“ im Verlaufe ungezählter Generationen iſt. Aber
in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf
alle Fälle. Im Tintenfiſch ſehen wir die Beweglichkeit des
Individuums um einen rieſigen Ruck gegen die Auſter etwa
erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit
einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen
bei der Begattung.

Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬
ſchlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im
Leibesſack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der
Tintenmann hat da ſeinen Hoden (nur einen), in dem die
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[297/0313] Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Feſthaften, Ankleben, Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr ſo an der Scholle feſtniſtet, ſondern zeitlebens als freies Individuum mit jeweiliger ſchutzentſprechender Selbſtbeſtimmung ſich herum¬ bewegt, ſetzen wir den Tintenfiſch hoch über die Auſter. Und im höchſten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬ tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachſenen oder eingewurzelten Weſen mehr. Der Begattungsakt iſt aber nun überall eine letzte Stelle, wo wenigſtens noch für einen Moment eine ſolche Einwurzelei und Feſthafterei auf alle Fälle ſtattfinden ſoll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchſten Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen in Menge hervorruft. Der Menſch hat wohl ein Recht, von dieſem Intermezzo höheren tieriſchen Lebens zu ſagen, was Helmholtz vom menſchlichen Auge ſagte: alle Geſamtleiſtung in Ehren, würde er doch einen menſchlichen Mechanikus, der ihm einen Apparat mit ſo viel Mängeln und überflüſſigen Erſchwerungen gebracht hätte, als Stümper ſamt ſeinem Werk in Schanden heimgeſchickt haben. Solche „Unpraktiſchkeiten“ der Natur ſind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen, wie die Welt der tieriſchen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬ weisheit, ſondern das Ergebnis unendlich langſamer, ſchwieriger „Selbſtmache“ im Verlaufe ungezählter Generationen iſt. Aber in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf alle Fälle. Im Tintenfiſch ſehen wir die Beweglichkeit des Individuums um einen rieſigen Ruck gegen die Auſter etwa erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen bei der Begattung. Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬ ſchlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im Leibesſack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der Tintenmann hat da ſeinen Hoden (nur einen), in dem die Samentierchen fabriziert werden, das Tintenweib ſeinen (eben¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/313>, abgerufen am 25.11.2024.