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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Achtbeiner hinter ihren staubgrauen Seidenfähnchen jüngste
Kobolde, die nichts nach ehrwürdigem Alter fragen.

Heute ginge es mir umgekehrt. Ob das Menschenkind,
das diesen Schädel trug, auch thatsächlich vor achtzehnhundert
Jahren schon geliebt haben mag -- es liebte als Mensch, als
Kulturmensch. Die Spinne aber trägt ein wirkliches Greisen¬
antlitz, ihre Liebe ist eisgrau wie von einem fremden Planeten.
Eine uralte Verworrenheit steckt darin, die nie überwunden
worden ist.

Im Liebesleben der Spinne, das mit dieser Spinne selbst
vielleicht bis auf die Steinkohlenzeit zurückreicht, ist ein Problem
noch nicht ordentlich gelöst, das eigentlich ans Herz aller Liebe
greift. Das Problem vom Unterschied des Fressens und des
Liebens.

[Abbildung]

Besinne dich einen Augenblick zurück. Auf die Zwergen¬
geschichte. Du erinnerst dich: wie die Liebe überhaupt anfing.
Das Fressen war eine Notwendigkeit schon für die Urzellen. Es
ersetzte in der Zelle den ewigen Verbrauch, es ermöglichte einen
Stoffwechsel, bei dem der Körper sich gleich blieb. Dann er¬
möglichte es aber über den einfachen Ersatz hinaus auch eine
positive Zunahme: der Körper wuchs. Und dieses Wachsen
wieder führte zur Zerspaltung des einen Individuums in zwei, --
zu der einfachsten Form der Fortpflanzung.

In diesem Sinne gilt das Wort, daß das Fressen eine
Urbedingung der Liebe war, -- kein Gegensatz, sondern eine
reinliche logische Voraussetzung.

Dann kam aber die geschlechtliche Liebe. Mit ihrer Ver¬
schmelzung von Leben in Leben. Zelle zu Zelle. Eizelle zu
Samenzelle. Aus dieser Verschmelzung erwuchs ein erhöhtes
Wachstum. Und so war diese Geschlechtsliebe mit ihrer
Einigung gewissermaßen wirklich eine Art höheren Fressens.

Achtbeiner hinter ihren ſtaubgrauen Seidenfähnchen jüngſte
Kobolde, die nichts nach ehrwürdigem Alter fragen.

Heute ginge es mir umgekehrt. Ob das Menſchenkind,
das dieſen Schädel trug, auch thatſächlich vor achtzehnhundert
Jahren ſchon geliebt haben mag — es liebte als Menſch, als
Kulturmenſch. Die Spinne aber trägt ein wirkliches Greiſen¬
antlitz, ihre Liebe iſt eisgrau wie von einem fremden Planeten.
Eine uralte Verworrenheit ſteckt darin, die nie überwunden
worden iſt.

Im Liebesleben der Spinne, das mit dieſer Spinne ſelbſt
vielleicht bis auf die Steinkohlenzeit zurückreicht, iſt ein Problem
noch nicht ordentlich gelöſt, das eigentlich ans Herz aller Liebe
greift. Das Problem vom Unterſchied des Freſſens und des
Liebens.

[Abbildung]

Beſinne dich einen Augenblick zurück. Auf die Zwergen¬
geſchichte. Du erinnerſt dich: wie die Liebe überhaupt anfing.
Das Freſſen war eine Notwendigkeit ſchon für die Urzellen. Es
erſetzte in der Zelle den ewigen Verbrauch, es ermöglichte einen
Stoffwechſel, bei dem der Körper ſich gleich blieb. Dann er¬
möglichte es aber über den einfachen Erſatz hinaus auch eine
poſitive Zunahme: der Körper wuchs. Und dieſes Wachſen
wieder führte zur Zerſpaltung des einen Individuums in zwei, —
zu der einfachſten Form der Fortpflanzung.

In dieſem Sinne gilt das Wort, daß das Freſſen eine
Urbedingung der Liebe war, — kein Gegenſatz, ſondern eine
reinliche logiſche Vorausſetzung.

Dann kam aber die geſchlechtliche Liebe. Mit ihrer Ver¬
ſchmelzung von Leben in Leben. Zelle zu Zelle. Eizelle zu
Samenzelle. Aus dieſer Verſchmelzung erwuchs ein erhöhtes
Wachstum. Und ſo war dieſe Geſchlechtsliebe mit ihrer
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[324/0340] Achtbeiner hinter ihren ſtaubgrauen Seidenfähnchen jüngſte Kobolde, die nichts nach ehrwürdigem Alter fragen. Heute ginge es mir umgekehrt. Ob das Menſchenkind, das dieſen Schädel trug, auch thatſächlich vor achtzehnhundert Jahren ſchon geliebt haben mag — es liebte als Menſch, als Kulturmenſch. Die Spinne aber trägt ein wirkliches Greiſen¬ antlitz, ihre Liebe iſt eisgrau wie von einem fremden Planeten. Eine uralte Verworrenheit ſteckt darin, die nie überwunden worden iſt. Im Liebesleben der Spinne, das mit dieſer Spinne ſelbſt vielleicht bis auf die Steinkohlenzeit zurückreicht, iſt ein Problem noch nicht ordentlich gelöſt, das eigentlich ans Herz aller Liebe greift. Das Problem vom Unterſchied des Freſſens und des Liebens. [Abbildung] Beſinne dich einen Augenblick zurück. Auf die Zwergen¬ geſchichte. Du erinnerſt dich: wie die Liebe überhaupt anfing. Das Freſſen war eine Notwendigkeit ſchon für die Urzellen. Es erſetzte in der Zelle den ewigen Verbrauch, es ermöglichte einen Stoffwechſel, bei dem der Körper ſich gleich blieb. Dann er¬ möglichte es aber über den einfachen Erſatz hinaus auch eine poſitive Zunahme: der Körper wuchs. Und dieſes Wachſen wieder führte zur Zerſpaltung des einen Individuums in zwei, — zu der einfachſten Form der Fortpflanzung. In dieſem Sinne gilt das Wort, daß das Freſſen eine Urbedingung der Liebe war, — kein Gegenſatz, ſondern eine reinliche logiſche Vorausſetzung. Dann kam aber die geſchlechtliche Liebe. Mit ihrer Ver¬ ſchmelzung von Leben in Leben. Zelle zu Zelle. Eizelle zu Samenzelle. Aus dieſer Verſchmelzung erwuchs ein erhöhtes Wachstum. Und ſo war dieſe Geſchlechtsliebe mit ihrer Einigung gewiſſermaßen wirklich eine Art höheren Freſſens.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/340>, abgerufen am 23.11.2024.