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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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einem anderen Gesichtswinkel mißt als du. Für deinen
Menschensinn nicht einmal ganz ein Jahr. Einmal Sonnen¬
wanderung der Erde.

Aber der Spinne war das ein Weltenjahr. Es teilte sich
in zwei große kosmische Epochen. Erst eine furchtbare Eiszeit.
Winter. Da lagen alle diese Spinnen noch im Halbschlaf im
winzigen Ei. Hundert solcher gelben Eichen beisammen in
einem warmen Eiernestchen.

Dann ein neuer, unglaublich verwandelter Erdentag. Die
Schneelast schmolz, grüne Knospen gingen auf. Frühling. Die
Sonne stieß an das Eiernest und die Spinnchen sprengten ihre
Eihaut. Acht Tage litt es sie noch in geselligen Klumpen bei¬
sammen. Dann lief der Geschwisterschwarm auseinander. Keines
achtete des anderen mehr.

Die Spinne kennt kein Larvenleben wie das höhere Insekt,
wie Eintagsfliege oder Schmetterling. Aus dem Ei kriecht sie,
wie sie ist, bloß unausgefärbt und winzig klein. In ihrem
Netz wächst sie dann, -- in einem Sommer zur ganzen Größe
des furchtbaren Raubtieres, zur fetten Kreuzspinne, wie sie
selbst dich erschreckt. Solch rasches Wachstum baut sich aber
natürlich nur auf auf unerhörter Gefräßigkeit.

Unter der Peitsche des Hungers wird sie in den paar
Sommermonaten zur wahren Künstlerin der Tierschlächterei.

Das herrliche Netz wird aufgebaut, -- aber nur zu diesem
Zweck. Opfer um Opfer fällt hinein. Eine Orgie des
Schlachtens, des Fressens im "Nahrungssinne", dieses ganze
Leben vom Mai bis September. Eine Riesenleistung von
Intellekt, aber alles auf die eine Arbeit gestellt. Intellekt zum
Teil schon der Vorfahren, der vererbt ist: die allgemeine Ver¬
anlagung zum Netzbauen. Intellekt aber auch in höchstem
Maße bei jedem Individuum, das sich den rechten Ort suchen
muß für dieses Netz und in tausend Einzelfällen das Beste,
das Angemessene entsprechend abzuändern und neu hinzu zu
finden hat. Intellekt, der die Beute zu taxieren versteht, der

einem anderen Geſichtswinkel mißt als du. Für deinen
Menſchenſinn nicht einmal ganz ein Jahr. Einmal Sonnen¬
wanderung der Erde.

Aber der Spinne war das ein Weltenjahr. Es teilte ſich
in zwei große kosmiſche Epochen. Erſt eine furchtbare Eiszeit.
Winter. Da lagen alle dieſe Spinnen noch im Halbſchlaf im
winzigen Ei. Hundert ſolcher gelben Eichen beiſammen in
einem warmen Eierneſtchen.

Dann ein neuer, unglaublich verwandelter Erdentag. Die
Schneelaſt ſchmolz, grüne Knoſpen gingen auf. Frühling. Die
Sonne ſtieß an das Eierneſt und die Spinnchen ſprengten ihre
Eihaut. Acht Tage litt es ſie noch in geſelligen Klumpen bei¬
ſammen. Dann lief der Geſchwiſterſchwarm auseinander. Keines
achtete des anderen mehr.

Die Spinne kennt kein Larvenleben wie das höhere Inſekt,
wie Eintagsfliege oder Schmetterling. Aus dem Ei kriecht ſie,
wie ſie iſt, bloß unausgefärbt und winzig klein. In ihrem
Netz wächſt ſie dann, — in einem Sommer zur ganzen Größe
des furchtbaren Raubtieres, zur fetten Kreuzſpinne, wie ſie
ſelbſt dich erſchreckt. Solch raſches Wachstum baut ſich aber
natürlich nur auf auf unerhörter Gefräßigkeit.

Unter der Peitſche des Hungers wird ſie in den paar
Sommermonaten zur wahren Künſtlerin der Tierſchlächterei.

Das herrliche Netz wird aufgebaut, — aber nur zu dieſem
Zweck. Opfer um Opfer fällt hinein. Eine Orgie des
Schlachtens, des Freſſens im „Nahrungsſinne“, dieſes ganze
Leben vom Mai bis September. Eine Rieſenleiſtung von
Intellekt, aber alles auf die eine Arbeit geſtellt. Intellekt zum
Teil ſchon der Vorfahren, der vererbt iſt: die allgemeine Ver¬
anlagung zum Netzbauen. Intellekt aber auch in höchſtem
Maße bei jedem Individuum, das ſich den rechten Ort ſuchen
muß für dieſes Netz und in tauſend Einzelfällen das Beſte,
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[329/0345] einem anderen Geſichtswinkel mißt als du. Für deinen Menſchenſinn nicht einmal ganz ein Jahr. Einmal Sonnen¬ wanderung der Erde. Aber der Spinne war das ein Weltenjahr. Es teilte ſich in zwei große kosmiſche Epochen. Erſt eine furchtbare Eiszeit. Winter. Da lagen alle dieſe Spinnen noch im Halbſchlaf im winzigen Ei. Hundert ſolcher gelben Eichen beiſammen in einem warmen Eierneſtchen. Dann ein neuer, unglaublich verwandelter Erdentag. Die Schneelaſt ſchmolz, grüne Knoſpen gingen auf. Frühling. Die Sonne ſtieß an das Eierneſt und die Spinnchen ſprengten ihre Eihaut. Acht Tage litt es ſie noch in geſelligen Klumpen bei¬ ſammen. Dann lief der Geſchwiſterſchwarm auseinander. Keines achtete des anderen mehr. Die Spinne kennt kein Larvenleben wie das höhere Inſekt, wie Eintagsfliege oder Schmetterling. Aus dem Ei kriecht ſie, wie ſie iſt, bloß unausgefärbt und winzig klein. In ihrem Netz wächſt ſie dann, — in einem Sommer zur ganzen Größe des furchtbaren Raubtieres, zur fetten Kreuzſpinne, wie ſie ſelbſt dich erſchreckt. Solch raſches Wachstum baut ſich aber natürlich nur auf auf unerhörter Gefräßigkeit. Unter der Peitſche des Hungers wird ſie in den paar Sommermonaten zur wahren Künſtlerin der Tierſchlächterei. Das herrliche Netz wird aufgebaut, — aber nur zu dieſem Zweck. Opfer um Opfer fällt hinein. Eine Orgie des Schlachtens, des Freſſens im „Nahrungsſinne“, dieſes ganze Leben vom Mai bis September. Eine Rieſenleiſtung von Intellekt, aber alles auf die eine Arbeit geſtellt. Intellekt zum Teil ſchon der Vorfahren, der vererbt iſt: die allgemeine Ver¬ anlagung zum Netzbauen. Intellekt aber auch in höchſtem Maße bei jedem Individuum, das ſich den rechten Ort ſuchen muß für dieſes Netz und in tauſend Einzelfällen das Beſte, das Angemeſſene entſprechend abzuändern und neu hinzu zu finden hat. Intellekt, der die Beute zu taxieren verſteht, der

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/345>, abgerufen am 23.11.2024.