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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Die Kulturgeschichte hätte eingesetzt mit einer Moral, der
die Mutter als die natürliche Feindin ihrer Kinder galt. Eine
lapidare Gesetzgebung, die das zusammenfaßte, hätte scharf
sondern müssen: ehre deinen Vater -- und hasse deine Mutter.
Und ein Weiser am See Genezareth dieser Stichlingsmenschheit,
der die Liebe so weit fassen wollte, wie nie ein anderer vor
ihm, der alle bisher gültige Moral umkehren wollte bis in
ihren äußersten Gegensatz um der Liebe willen, -- er hätte
kein schärferes, kein ungeheuerlicheres Beispiel finden können
als: "Liebet sogar eure Mutter ....." Das Meer seiner
Zeit wäre wahrscheinlich im wildesten Sturme emporgebraust
und hätte ihn verschlungen ob der Verwegenheit solcher Forde¬
rung. Dann aber hätten sie's langsam doch glauben müssen, --
in schwerer, fast verzweifelnder Gewöhnung, wie wir es be¬
griffen haben oder wenigstens zu begreifen anfangen, daß man
alle Menschen lieben soll .....

Und doch: das eigentlich Interessante an solcher Träumerei
ist, daß im ganzen die Dinge doch schließlich dieselben ge¬
worden wären. Die Menschheit hätte an einer Ecke vielleicht
ein Paar tausend Jahre moralischen Freiheitskampfes mehr
gehabt. Etwas, was sie bei uns schon vom Tier mitbekam,
hätte sie erst noch erwerben müssen innerhalb ihrer Kultur.
Aber erworben hätte sie es auch, -- mit absoluter Sicherheit!
Er wäre ja doch eines Tages wirklich gekommen, jener große
Verkündiger der Mutterliebe. Die Mutterliebe ist eine Station
in der Menschheitsliebe. Wir konnten von hier schon aus¬
gehen. Dort hätte man erst die Station als solche erwerben
müssen. Aber kommen mußte man auf sie in der gleichen
logischen Folge.

Und das ist das eigentliche Lehrreiche des ganzen Ge¬
dankenganges, weshalb ich ihn dir hier eingestreut habe. Ge¬
schichtlich war es jedenfalls eine innere Notwendigkeit, daß
nicht der Stichling und seine Nachkommen, sondern eine schon
vor ihm abzweigende andere Linie des Wirbeltierstammes zu

Die Kulturgeſchichte hätte eingeſetzt mit einer Moral, der
die Mutter als die natürliche Feindin ihrer Kinder galt. Eine
lapidare Geſetzgebung, die das zuſammenfaßte, hätte ſcharf
ſondern müſſen: ehre deinen Vater — und haſſe deine Mutter.
Und ein Weiſer am See Genezareth dieſer Stichlingsmenſchheit,
der die Liebe ſo weit faſſen wollte, wie nie ein anderer vor
ihm, der alle bisher gültige Moral umkehren wollte bis in
ihren äußerſten Gegenſatz um der Liebe willen, — er hätte
kein ſchärferes, kein ungeheuerlicheres Beiſpiel finden können
als: „Liebet ſogar eure Mutter .....“ Das Meer ſeiner
Zeit wäre wahrſcheinlich im wildeſten Sturme emporgebrauſt
und hätte ihn verſchlungen ob der Verwegenheit ſolcher Forde¬
rung. Dann aber hätten ſie's langſam doch glauben müſſen, —
in ſchwerer, faſt verzweifelnder Gewöhnung, wie wir es be¬
griffen haben oder wenigſtens zu begreifen anfangen, daß man
alle Menſchen lieben ſoll .....

Und doch: das eigentlich Intereſſante an ſolcher Träumerei
iſt, daß im ganzen die Dinge doch ſchließlich dieſelben ge¬
worden wären. Die Menſchheit hätte an einer Ecke vielleicht
ein Paar tauſend Jahre moraliſchen Freiheitskampfes mehr
gehabt. Etwas, was ſie bei uns ſchon vom Tier mitbekam,
hätte ſie erſt noch erwerben müſſen innerhalb ihrer Kultur.
Aber erworben hätte ſie es auch, — mit abſoluter Sicherheit!
Er wäre ja doch eines Tages wirklich gekommen, jener große
Verkündiger der Mutterliebe. Die Mutterliebe iſt eine Station
in der Menſchheitsliebe. Wir konnten von hier ſchon aus¬
gehen. Dort hätte man erſt die Station als ſolche erwerben
müſſen. Aber kommen mußte man auf ſie in der gleichen
logiſchen Folge.

Und das iſt das eigentliche Lehrreiche des ganzen Ge¬
dankenganges, weshalb ich ihn dir hier eingeſtreut habe. Ge¬
ſchichtlich war es jedenfalls eine innere Notwendigkeit, daß
nicht der Stichling und ſeine Nachkommen, ſondern eine ſchon
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[358/0374] Die Kulturgeſchichte hätte eingeſetzt mit einer Moral, der die Mutter als die natürliche Feindin ihrer Kinder galt. Eine lapidare Geſetzgebung, die das zuſammenfaßte, hätte ſcharf ſondern müſſen: ehre deinen Vater — und haſſe deine Mutter. Und ein Weiſer am See Genezareth dieſer Stichlingsmenſchheit, der die Liebe ſo weit faſſen wollte, wie nie ein anderer vor ihm, der alle bisher gültige Moral umkehren wollte bis in ihren äußerſten Gegenſatz um der Liebe willen, — er hätte kein ſchärferes, kein ungeheuerlicheres Beiſpiel finden können als: „Liebet ſogar eure Mutter .....“ Das Meer ſeiner Zeit wäre wahrſcheinlich im wildeſten Sturme emporgebrauſt und hätte ihn verſchlungen ob der Verwegenheit ſolcher Forde¬ rung. Dann aber hätten ſie's langſam doch glauben müſſen, — in ſchwerer, faſt verzweifelnder Gewöhnung, wie wir es be¬ griffen haben oder wenigſtens zu begreifen anfangen, daß man alle Menſchen lieben ſoll ..... Und doch: das eigentlich Intereſſante an ſolcher Träumerei iſt, daß im ganzen die Dinge doch ſchließlich dieſelben ge¬ worden wären. Die Menſchheit hätte an einer Ecke vielleicht ein Paar tauſend Jahre moraliſchen Freiheitskampfes mehr gehabt. Etwas, was ſie bei uns ſchon vom Tier mitbekam, hätte ſie erſt noch erwerben müſſen innerhalb ihrer Kultur. Aber erworben hätte ſie es auch, — mit abſoluter Sicherheit! Er wäre ja doch eines Tages wirklich gekommen, jener große Verkündiger der Mutterliebe. Die Mutterliebe iſt eine Station in der Menſchheitsliebe. Wir konnten von hier ſchon aus¬ gehen. Dort hätte man erſt die Station als ſolche erwerben müſſen. Aber kommen mußte man auf ſie in der gleichen logiſchen Folge. Und das iſt das eigentliche Lehrreiche des ganzen Ge¬ dankenganges, weshalb ich ihn dir hier eingeſtreut habe. Ge¬ ſchichtlich war es jedenfalls eine innere Notwendigkeit, daß nicht der Stichling und ſeine Nachkommen, ſondern eine ſchon vor ihm abzweigende andere Linie des Wirbeltierſtammes zu

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/374>, abgerufen am 21.11.2024.