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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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"Menschen" wurden. Es muß seine bestimmten Einzelgründe
in der Entwickelungsfolge gehabt haben. Aber gerade wer sich
etwas in darwinistische Gedanken heute oberflächlich eingeschult
hat, der ist oft gern geneigt, von "Zufällen" solcher Entwickelung
als etwas Absolutem zu reden. Bah, das Stückchen biegsamen
Knochenmaterials oder Nervensubstanz oder das Endchen anderer
Methode beim Atmen oder was sonst die Menschwerdung hier
herübergetrieben hat anstatt dorthin, über den Molchfisch anstatt
über den Stichling, -- Zufall! Und wäre dies winzigste
Fünkchen Zufall nicht gewesen, so hätten wir oben ein ganz
anderes Feuerwerk erhalten!

Was aber ist die Wahrheit? Es hätte doch letzten Endes
alles nachgeholt werden müssen, und das Ergebnis wäre doch
dasselbe gewesen. Der "Zufall" hätte, anders fallend, nicht
den eigentlichen großen Lauf geändert, sondern nur kaleidoskop¬
artig gewisse Verschiebungen der Reihenfolge bewirken können.
Gewisse Dinge, die sonst früh erreicht wurden, wären jetzt spät
nachzuholen gewesen, dafür wäre's jedenfalls bei anderen aber
wieder ausgleichend umgekehrt gewesen.

Du verstehst mich recht, nicht wahr: gerade solches extreme
Andersdenken der Dinge im Sinne des Stichlingbeispiels be¬
wirkt alles andere eher, als daß uns der Boden unserer wirk¬
lichen menschlichen Kulturerrungenschaften unter den Füßen
schwankend gemacht würde. Es macht ihn im Gegenteil erst
recht fest. Das Bewußtsein schaut das Unverrückbare, das
unabänderlich logische "Empor" erst ganz sicher und unzerstör¬
bar jetzt hinter allen möglichen Stellungen des Kaleidoskops
der äußeren Vorgänge und "Zufälligkeiten". Nur in einem
kommst du natürlich zu kurz. Wenn du statt auf Entwickelung
überhaupt zu schwören, dich auf irgend eine äußerliche Moral¬
form, irgend ein Moralereignis der hinter uns liegenden
menschlichen Kulturbahn festbeißt und hier mit Gewalt das
Siegel der absoluten "Weltordnung" im Sinne einer dauernden
Verankerung suchst.

„Menſchen“ wurden. Es muß ſeine beſtimmten Einzelgründe
in der Entwickelungsfolge gehabt haben. Aber gerade wer ſich
etwas in darwiniſtiſche Gedanken heute oberflächlich eingeſchult
hat, der iſt oft gern geneigt, von „Zufällen“ ſolcher Entwickelung
als etwas Abſolutem zu reden. Bah, das Stückchen biegſamen
Knochenmaterials oder Nervenſubſtanz oder das Endchen anderer
Methode beim Atmen oder was ſonſt die Menſchwerdung hier
herübergetrieben hat anſtatt dorthin, über den Molchfiſch anſtatt
über den Stichling, — Zufall! Und wäre dies winzigſte
Fünkchen Zufall nicht geweſen, ſo hätten wir oben ein ganz
anderes Feuerwerk erhalten!

Was aber iſt die Wahrheit? Es hätte doch letzten Endes
alles nachgeholt werden müſſen, und das Ergebnis wäre doch
dasſelbe geweſen. Der „Zufall“ hätte, anders fallend, nicht
den eigentlichen großen Lauf geändert, ſondern nur kaleidoſkop¬
artig gewiſſe Verſchiebungen der Reihenfolge bewirken können.
Gewiſſe Dinge, die ſonſt früh erreicht wurden, wären jetzt ſpät
nachzuholen geweſen, dafür wäre's jedenfalls bei anderen aber
wieder ausgleichend umgekehrt geweſen.

Du verſtehſt mich recht, nicht wahr: gerade ſolches extreme
Andersdenken der Dinge im Sinne des Stichlingbeiſpiels be¬
wirkt alles andere eher, als daß uns der Boden unſerer wirk¬
lichen menſchlichen Kulturerrungenſchaften unter den Füßen
ſchwankend gemacht würde. Es macht ihn im Gegenteil erſt
recht feſt. Das Bewußtſein ſchaut das Unverrückbare, das
unabänderlich logiſche „Empor“ erſt ganz ſicher und unzerſtör¬
bar jetzt hinter allen möglichen Stellungen des Kaleidoſkops
der äußeren Vorgänge und „Zufälligkeiten“. Nur in einem
kommſt du natürlich zu kurz. Wenn du ſtatt auf Entwickelung
überhaupt zu ſchwören, dich auf irgend eine äußerliche Moral¬
form, irgend ein Moralereignis der hinter uns liegenden
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Verankerung ſuchſt.

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[359/0375] „Menſchen“ wurden. Es muß ſeine beſtimmten Einzelgründe in der Entwickelungsfolge gehabt haben. Aber gerade wer ſich etwas in darwiniſtiſche Gedanken heute oberflächlich eingeſchult hat, der iſt oft gern geneigt, von „Zufällen“ ſolcher Entwickelung als etwas Abſolutem zu reden. Bah, das Stückchen biegſamen Knochenmaterials oder Nervenſubſtanz oder das Endchen anderer Methode beim Atmen oder was ſonſt die Menſchwerdung hier herübergetrieben hat anſtatt dorthin, über den Molchfiſch anſtatt über den Stichling, — Zufall! Und wäre dies winzigſte Fünkchen Zufall nicht geweſen, ſo hätten wir oben ein ganz anderes Feuerwerk erhalten! Was aber iſt die Wahrheit? Es hätte doch letzten Endes alles nachgeholt werden müſſen, und das Ergebnis wäre doch dasſelbe geweſen. Der „Zufall“ hätte, anders fallend, nicht den eigentlichen großen Lauf geändert, ſondern nur kaleidoſkop¬ artig gewiſſe Verſchiebungen der Reihenfolge bewirken können. Gewiſſe Dinge, die ſonſt früh erreicht wurden, wären jetzt ſpät nachzuholen geweſen, dafür wäre's jedenfalls bei anderen aber wieder ausgleichend umgekehrt geweſen. Du verſtehſt mich recht, nicht wahr: gerade ſolches extreme Andersdenken der Dinge im Sinne des Stichlingbeiſpiels be¬ wirkt alles andere eher, als daß uns der Boden unſerer wirk¬ lichen menſchlichen Kulturerrungenſchaften unter den Füßen ſchwankend gemacht würde. Es macht ihn im Gegenteil erſt recht feſt. Das Bewußtſein ſchaut das Unverrückbare, das unabänderlich logiſche „Empor“ erſt ganz ſicher und unzerſtör¬ bar jetzt hinter allen möglichen Stellungen des Kaleidoſkops der äußeren Vorgänge und „Zufälligkeiten“. Nur in einem kommſt du natürlich zu kurz. Wenn du ſtatt auf Entwickelung überhaupt zu ſchwören, dich auf irgend eine äußerliche Moral¬ form, irgend ein Moralereignis der hinter uns liegenden menſchlichen Kulturbahn feſtbeißt und hier mit Gewalt das Siegel der abſoluten „Weltordnung“ im Sinne einer dauernden Verankerung ſuchſt.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/375>, abgerufen am 22.11.2024.