Wechselnde Bilder gleißen deinem Auge vorüber. Da sind die Tempelhaine von Hierapolis. Männliche Zeugungs¬ glieder, in gigantischer Form von Stein gemeißelt, ragen zum Blau empor, Symbole der göttlichen Zeugungskraft. Da ist der Tempel der Astarte, wo die Prostitution ein Gottesopfer ist, junge Mädchen sich hingeben, um eine höhere religiöse Reinheit dafür einzutauschen. Das befruchtete, gebärende Weib wird Isis, die Allmutter, deren Schoß ewig neu die Welt ge¬ biert. In Eleusis wird die Zeugung ein Mysterium, das schlichte Ährenkorn ein heiliges Wunder, das die Gläubigen erlöst. Dann bricht Christus in diese Welt. Jene andere ideelle Fortentwickelung der einfachen Geschlechtsliebe, die aufs Soziale, durch gemeinsame vergeistigte Liebesarbeit Erlösende geht, gewinnt jählings ungeheure Macht. Und sie tritt auf in einer Form, die den Kultus des extrem Geschlechtlichen, der Zeugung, des Weibes zu vernichten droht. Und doch rafft der sich wieder auf. Aus den grellbunten Säulenstümpfen des liebesglühenden, vom heißen Atem des Zeugens und Gebärens durchhauchten Heiligtums der Allmutter Isis wächst die Marien¬ kirche, mit zarten goldenen Sternen im keuschen Blau. Und wieder ist es dasselbe, nur in unendliche Weichheit des ver¬ geistigten Ideals entwickelt. Nicht nur der wilde Rausch der Zeugenden, der selige Schmerz der Gebärenden: auch das Reine der Jungfrau, der erst knospenden Liebe wird jetzt ins Unend¬ liche, Weltumspannende verklärt.
Aus dieser Weltanschauung wuchs Rafael. Sein Glaube an das Weib im Herzen der Welt floß ihm zusammen mit jenem anderen, daß auch die Menschenliebe nicht aus dem Menschen selber gestiegen sei, sondern vom Himmel herab. An der Brust der Madonna, die über Sonnen und Erden stand, lag ihm das Gotteskind, das die Gebote dieser Menschenliebe aus dem Jenseits trug .....
Verklungen, verklungen heute auch das. Vineta-Glocken im Ozean!
Wechſelnde Bilder gleißen deinem Auge vorüber. Da ſind die Tempelhaine von Hierapolis. Männliche Zeugungs¬ glieder, in gigantiſcher Form von Stein gemeißelt, ragen zum Blau empor, Symbole der göttlichen Zeugungskraft. Da iſt der Tempel der Aſtarte, wo die Proſtitution ein Gottesopfer iſt, junge Mädchen ſich hingeben, um eine höhere religiöſe Reinheit dafür einzutauſchen. Das befruchtete, gebärende Weib wird Iſis, die Allmutter, deren Schoß ewig neu die Welt ge¬ biert. In Eleuſis wird die Zeugung ein Myſterium, das ſchlichte Ährenkorn ein heiliges Wunder, das die Gläubigen erlöſt. Dann bricht Chriſtus in dieſe Welt. Jene andere ideelle Fortentwickelung der einfachen Geſchlechtsliebe, die aufs Soziale, durch gemeinſame vergeiſtigte Liebesarbeit Erlöſende geht, gewinnt jählings ungeheure Macht. Und ſie tritt auf in einer Form, die den Kultus des extrem Geſchlechtlichen, der Zeugung, des Weibes zu vernichten droht. Und doch rafft der ſich wieder auf. Aus den grellbunten Säulenſtümpfen des liebesglühenden, vom heißen Atem des Zeugens und Gebärens durchhauchten Heiligtums der Allmutter Iſis wächſt die Marien¬ kirche, mit zarten goldenen Sternen im keuſchen Blau. Und wieder iſt es dasſelbe, nur in unendliche Weichheit des ver¬ geiſtigten Ideals entwickelt. Nicht nur der wilde Rauſch der Zeugenden, der ſelige Schmerz der Gebärenden: auch das Reine der Jungfrau, der erſt knoſpenden Liebe wird jetzt ins Unend¬ liche, Weltumſpannende verklärt.
Aus dieſer Weltanſchauung wuchs Rafael. Sein Glaube an das Weib im Herzen der Welt floß ihm zuſammen mit jenem anderen, daß auch die Menſchenliebe nicht aus dem Menſchen ſelber geſtiegen ſei, ſondern vom Himmel herab. An der Bruſt der Madonna, die über Sonnen und Erden ſtand, lag ihm das Gotteskind, das die Gebote dieſer Menſchenliebe aus dem Jenſeits trug .....
Verklungen, verklungen heute auch das. Vineta-Glocken im Ozean!
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Wechſelnde Bilder gleißen deinem Auge vorüber. Da
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glieder, in gigantiſcher Form von Stein gemeißelt, ragen zum
Blau empor, Symbole der göttlichen Zeugungskraft. Da iſt
der Tempel der Aſtarte, wo die Proſtitution ein Gottesopfer
iſt, junge Mädchen ſich hingeben, um eine höhere religiöſe
Reinheit dafür einzutauſchen. Das befruchtete, gebärende Weib
wird Iſis, die Allmutter, deren Schoß ewig neu die Welt ge¬
biert. In Eleuſis wird die Zeugung ein Myſterium, das
ſchlichte Ährenkorn ein heiliges Wunder, das die Gläubigen
erlöſt. Dann bricht Chriſtus in dieſe Welt. Jene andere
ideelle Fortentwickelung der einfachen Geſchlechtsliebe, die aufs
Soziale, durch gemeinſame vergeiſtigte Liebesarbeit Erlöſende
geht, gewinnt jählings ungeheure Macht. Und ſie tritt auf in
einer Form, die den Kultus des extrem Geſchlechtlichen, der
Zeugung, des Weibes zu vernichten droht. Und doch rafft
der ſich wieder auf. Aus den grellbunten Säulenſtümpfen des
liebesglühenden, vom heißen Atem des Zeugens und Gebärens
durchhauchten Heiligtums der Allmutter Iſis wächſt die Marien¬
kirche, mit zarten goldenen Sternen im keuſchen Blau. Und
wieder iſt es dasſelbe, nur in unendliche Weichheit des ver¬
geiſtigten Ideals entwickelt. Nicht nur der wilde Rauſch der
Zeugenden, der ſelige Schmerz der Gebärenden: auch das Reine
der Jungfrau, der erſt knoſpenden Liebe wird jetzt ins Unend¬
liche, Weltumſpannende verklärt.
Aus dieſer Weltanſchauung wuchs Rafael. Sein Glaube
an das Weib im Herzen der Welt floß ihm zuſammen mit
jenem anderen, daß auch die Menſchenliebe nicht aus dem
Menſchen ſelber geſtiegen ſei, ſondern vom Himmel herab. An
der Bruſt der Madonna, die über Sonnen und Erden ſtand,
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/52>, abgerufen am 24.11.2024.
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