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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Menschheit. Ein neues Wort geworden in jenen Weihetagen, von
denen das Evangelium singt. That werdend erst unter uns,
unter tausend, Millionen Kreuzen, die unsichtbar zu dem einen
aufsteigen, das die Legende zur durchsichtigen Lilie verklärt
hat, -- aufsteigen aus dunklen Höhlen der modernen Großstadt¬
fenster, aus Fabriken, wo das eiserne Rad über die zuckenden
Leiber rollt, aus Gefängnissen, Bordellen, Irrenhäusern und
Armenhäusern. Und doch siegreich, das Schwert und die Flamme
unserer Zeit, der stille, späte Lichtfunken am fernten Ausgang
des ungeheuren dunklen Schachtes, in dem wir alle keuchen ....

Fühlst du nun schon, wie hoch du schwebst? Vernimmst
du den Posaunenruf einer neuen Stimme, die sich in deine alte
Frage mischt: Was ist die Liebe?

[Abbildung]

Aber Rafael wollte dich noch höher haben. Seine Ma¬
donna schwebt aus lichten Wolken. Ein Weltenlicht, das jen¬
seits aller Sonnen und Planeten des Alls dem innigsten Herzen
aller physischen Dinge zu entströmen scheint, geht von ihr aus.
Ihr Fuß bedarf keiner Erde, als schreite sie im reinen Raum,
wo alle Gravitationskräfte einander die Wage halten. Rafael
träumte nicht bloß ein Weib. Auch nicht bloß die Menschheit
in eines Weibes Gestalt. Er träumte die Madonna. Mit dem
liebesverklärten Antlitz dieses Weibes, dieses Kindes träumte er
die Liebe pulsend bis ins wirkliche Herz der Welt. Alle Ge¬
heimnisse Himmels und der Erden umschloß ihr Schoß. Welt¬
symbol wurde sie. Und Welterlösung zugleich.

Eine neue ungeheure Wanderschaft der Menschheit thut sich
dir auf. Und die Liebe wandernd darin als ruheloser Ahasver.
Die Liebe ward Glaube, die Liebe ward Religion. Erst nackt
und roh und wild, -- dann doch auch hier immer mehr in
der stillen Läuterung von Blut zu Geist.

3 *

Menſchheit. Ein neues Wort geworden in jenen Weihetagen, von
denen das Evangelium ſingt. That werdend erſt unter uns,
unter tauſend, Millionen Kreuzen, die unſichtbar zu dem einen
aufſteigen, das die Legende zur durchſichtigen Lilie verklärt
hat, — aufſteigen aus dunklen Höhlen der modernen Großſtadt¬
fenſter, aus Fabriken, wo das eiſerne Rad über die zuckenden
Leiber rollt, aus Gefängniſſen, Bordellen, Irrenhäuſern und
Armenhäuſern. Und doch ſiegreich, das Schwert und die Flamme
unſerer Zeit, der ſtille, ſpäte Lichtfunken am fernten Ausgang
des ungeheuren dunklen Schachtes, in dem wir alle keuchen ....

Fühlſt du nun ſchon, wie hoch du ſchwebſt? Vernimmſt
du den Poſaunenruf einer neuen Stimme, die ſich in deine alte
Frage miſcht: Was iſt die Liebe?

[Abbildung]

Aber Rafael wollte dich noch höher haben. Seine Ma¬
donna ſchwebt aus lichten Wolken. Ein Weltenlicht, das jen¬
ſeits aller Sonnen und Planeten des Alls dem innigſten Herzen
aller phyſiſchen Dinge zu entſtrömen ſcheint, geht von ihr aus.
Ihr Fuß bedarf keiner Erde, als ſchreite ſie im reinen Raum,
wo alle Gravitationskräfte einander die Wage halten. Rafael
träumte nicht bloß ein Weib. Auch nicht bloß die Menſchheit
in eines Weibes Geſtalt. Er träumte die Madonna. Mit dem
liebesverklärten Antlitz dieſes Weibes, dieſes Kindes träumte er
die Liebe pulſend bis ins wirkliche Herz der Welt. Alle Ge¬
heimniſſe Himmels und der Erden umſchloß ihr Schoß. Welt¬
ſymbol wurde ſie. Und Welterlöſung zugleich.

Eine neue ungeheure Wanderſchaft der Menſchheit thut ſich
dir auf. Und die Liebe wandernd darin als ruheloſer Ahasver.
Die Liebe ward Glaube, die Liebe ward Religion. Erſt nackt
und roh und wild, — dann doch auch hier immer mehr in
der ſtillen Läuterung von Blut zu Geiſt.

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[35/0051] Menſchheit. Ein neues Wort geworden in jenen Weihetagen, von denen das Evangelium ſingt. That werdend erſt unter uns, unter tauſend, Millionen Kreuzen, die unſichtbar zu dem einen aufſteigen, das die Legende zur durchſichtigen Lilie verklärt hat, — aufſteigen aus dunklen Höhlen der modernen Großſtadt¬ fenſter, aus Fabriken, wo das eiſerne Rad über die zuckenden Leiber rollt, aus Gefängniſſen, Bordellen, Irrenhäuſern und Armenhäuſern. Und doch ſiegreich, das Schwert und die Flamme unſerer Zeit, der ſtille, ſpäte Lichtfunken am fernten Ausgang des ungeheuren dunklen Schachtes, in dem wir alle keuchen .... Fühlſt du nun ſchon, wie hoch du ſchwebſt? Vernimmſt du den Poſaunenruf einer neuen Stimme, die ſich in deine alte Frage miſcht: Was iſt die Liebe? [Abbildung] Aber Rafael wollte dich noch höher haben. Seine Ma¬ donna ſchwebt aus lichten Wolken. Ein Weltenlicht, das jen¬ ſeits aller Sonnen und Planeten des Alls dem innigſten Herzen aller phyſiſchen Dinge zu entſtrömen ſcheint, geht von ihr aus. Ihr Fuß bedarf keiner Erde, als ſchreite ſie im reinen Raum, wo alle Gravitationskräfte einander die Wage halten. Rafael träumte nicht bloß ein Weib. Auch nicht bloß die Menſchheit in eines Weibes Geſtalt. Er träumte die Madonna. Mit dem liebesverklärten Antlitz dieſes Weibes, dieſes Kindes träumte er die Liebe pulſend bis ins wirkliche Herz der Welt. Alle Ge¬ heimniſſe Himmels und der Erden umſchloß ihr Schoß. Welt¬ ſymbol wurde ſie. Und Welterlöſung zugleich. Eine neue ungeheure Wanderſchaft der Menſchheit thut ſich dir auf. Und die Liebe wandernd darin als ruheloſer Ahasver. Die Liebe ward Glaube, die Liebe ward Religion. Erſt nackt und roh und wild, — dann doch auch hier immer mehr in der ſtillen Läuterung von Blut zu Geiſt. 3 *

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/51>, abgerufen am 25.05.2024.