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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Philosophische Systeme kommen und gehen, jeder neue
Philosoph ist Simson, der die Säulen seines Hauses bricht.
Kirchendogmen, die über solchen Systemen versteinten, werden
vom Sturm der Gedanken wieder zernagt, bis sie wie feiner
Meteorstaub im leeren Raum verwirbelt sind. Magst du die
Dinge selber werten, wie du willst: sicher ist, daß mit der
Annäherung an die Gegenwart eine immer dunklere Wolken¬
bank sich über diesem Gebiete lagert. Wir können sie für
unseren Zweck lagern lassen..... wir beide wissen ja, welch
ungeheure Frage darunter schläft. Die Erwähnung genügt.
Lassen wir die große Sphinx ruhen an dieser Stelle und fragen
jetzt nicht, ob der Sand, in der sie heute begraben liegt, steigt
oder sinkt.....

Mit unvergleichlich sicherem Tritt aber stellt sich neben
den Glauben an die Unsterblichkeit des Individuums die Er¬
kenntnis des zweiten Unsterblichkeitsweges, der zwar von sich
aus das Individuum nicht retten kann, aber wenigstens die
Menschheit. Es ist der Weg über die Zeugung, über die Liebe.

Im Prinzip ist auch diese Fassung eine uralte Weisheit.
Sie ist so naheliegend, daß sie es sein muß.

Die paar Jahrtausende menschlichen Denkens sind vor
solchen schlicht logischen Schlüssen im Sinne des biblischen
Spruchs wirklich nur eine Nachtwache. Ein Vater, der sterbend
sein junges Kind segnet: und der ganze Gedankengang ist im
Umriß klar. Der Vater stirbt, -- was man sich dann je nach
der angedeuteten anderen Fassung für sich wieder erklären mag.
Aber das Kind lebt, und in ihm geht die Linie weiter.
Millionen solcher Linien, sich kreuzend, verspinnend, neue
Linien erzeugend: die Menschheit. Das Kind wird Enkel
bringen, die Enkel Urenkel. Alles auf dieser Erde, unter dieser
Sonne, die dem ältesten Ahnen, von dem noch Kunde da ist,
schon Boden, Wärme, Licht gaben. Auf ewiger Erde, -- unter
ewiger Sonne: -- der ewige Mensch, fußend auf dem My¬
sterium der Liebe, das ihn unsterblich macht.

Philoſophiſche Syſteme kommen und gehen, jeder neue
Philoſoph iſt Simſon, der die Säulen ſeines Hauſes bricht.
Kirchendogmen, die über ſolchen Syſtemen verſteinten, werden
vom Sturm der Gedanken wieder zernagt, bis ſie wie feiner
Meteorſtaub im leeren Raum verwirbelt ſind. Magſt du die
Dinge ſelber werten, wie du willſt: ſicher iſt, daß mit der
Annäherung an die Gegenwart eine immer dunklere Wolken¬
bank ſich über dieſem Gebiete lagert. Wir können ſie für
unſeren Zweck lagern laſſen..... wir beide wiſſen ja, welch
ungeheure Frage darunter ſchläft. Die Erwähnung genügt.
Laſſen wir die große Sphinx ruhen an dieſer Stelle und fragen
jetzt nicht, ob der Sand, in der ſie heute begraben liegt, ſteigt
oder ſinkt.....

Mit unvergleichlich ſicherem Tritt aber ſtellt ſich neben
den Glauben an die Unſterblichkeit des Individuums die Er¬
kenntnis des zweiten Unſterblichkeitsweges, der zwar von ſich
aus das Individuum nicht retten kann, aber wenigſtens die
Menſchheit. Es iſt der Weg über die Zeugung, über die Liebe.

Im Prinzip iſt auch dieſe Faſſung eine uralte Weisheit.
Sie iſt ſo naheliegend, daß ſie es ſein muß.

Die paar Jahrtauſende menſchlichen Denkens ſind vor
ſolchen ſchlicht logiſchen Schlüſſen im Sinne des bibliſchen
Spruchs wirklich nur eine Nachtwache. Ein Vater, der ſterbend
ſein junges Kind ſegnet: und der ganze Gedankengang iſt im
Umriß klar. Der Vater ſtirbt, — was man ſich dann je nach
der angedeuteten anderen Faſſung für ſich wieder erklären mag.
Aber das Kind lebt, und in ihm geht die Linie weiter.
Millionen ſolcher Linien, ſich kreuzend, verſpinnend, neue
Linien erzeugend: die Menſchheit. Das Kind wird Enkel
bringen, die Enkel Urenkel. Alles auf dieſer Erde, unter dieſer
Sonne, die dem älteſten Ahnen, von dem noch Kunde da iſt,
ſchon Boden, Wärme, Licht gaben. Auf ewiger Erde, — unter
ewiger Sonne: — der ewige Menſch, fußend auf dem My¬
ſterium der Liebe, das ihn unſterblich macht.

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[72/0088] Philoſophiſche Syſteme kommen und gehen, jeder neue Philoſoph iſt Simſon, der die Säulen ſeines Hauſes bricht. Kirchendogmen, die über ſolchen Syſtemen verſteinten, werden vom Sturm der Gedanken wieder zernagt, bis ſie wie feiner Meteorſtaub im leeren Raum verwirbelt ſind. Magſt du die Dinge ſelber werten, wie du willſt: ſicher iſt, daß mit der Annäherung an die Gegenwart eine immer dunklere Wolken¬ bank ſich über dieſem Gebiete lagert. Wir können ſie für unſeren Zweck lagern laſſen..... wir beide wiſſen ja, welch ungeheure Frage darunter ſchläft. Die Erwähnung genügt. Laſſen wir die große Sphinx ruhen an dieſer Stelle und fragen jetzt nicht, ob der Sand, in der ſie heute begraben liegt, ſteigt oder ſinkt..... Mit unvergleichlich ſicherem Tritt aber ſtellt ſich neben den Glauben an die Unſterblichkeit des Individuums die Er¬ kenntnis des zweiten Unſterblichkeitsweges, der zwar von ſich aus das Individuum nicht retten kann, aber wenigſtens die Menſchheit. Es iſt der Weg über die Zeugung, über die Liebe. Im Prinzip iſt auch dieſe Faſſung eine uralte Weisheit. Sie iſt ſo naheliegend, daß ſie es ſein muß. Die paar Jahrtauſende menſchlichen Denkens ſind vor ſolchen ſchlicht logiſchen Schlüſſen im Sinne des bibliſchen Spruchs wirklich nur eine Nachtwache. Ein Vater, der ſterbend ſein junges Kind ſegnet: und der ganze Gedankengang iſt im Umriß klar. Der Vater ſtirbt, — was man ſich dann je nach der angedeuteten anderen Faſſung für ſich wieder erklären mag. Aber das Kind lebt, und in ihm geht die Linie weiter. Millionen ſolcher Linien, ſich kreuzend, verſpinnend, neue Linien erzeugend: die Menſchheit. Das Kind wird Enkel bringen, die Enkel Urenkel. Alles auf dieſer Erde, unter dieſer Sonne, die dem älteſten Ahnen, von dem noch Kunde da iſt, ſchon Boden, Wärme, Licht gaben. Auf ewiger Erde, — unter ewiger Sonne: — der ewige Menſch, fußend auf dem My¬ ſterium der Liebe, das ihn unſterblich macht.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/88>, abgerufen am 21.11.2024.