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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Ein Blick in echter Liebe, ein Händedruck in starker Empfindung,
daß wir "zwei" sein wollten und doch eins, ein Liebes-
Individuum, -- und die Uhr wäre aufgezogen und arbeitete
leise tickend das Kind dieser Liebe aus bis zum Stundenschlage
der Geburt ..... Und dieses Liebeskind, warum sollte es
nicht reifen inmitten der reinsten Leibesschöne der Mutter?
Warum sollte es nicht blühen aus ihr wie eine liebliche bunte
Blume, eine Rose, die etwa zwischen ihren weißen Brüsten
keimte und sich rötete? Oder sich von ihrer brennenden Lippe
lösen wie ein großes Segenswort, ein Heilspruch der Mensch¬
heit, den ja ein solches neues Kindlein wirklich darstellt?
Immer, wenn der Mensch sich eine kindlich reine Insel der
Seligen ausgemalt hat, hat er geträumt, daß auch die
Schaffung, das Werden des neuen Menschen irgendwie dort
so sein müsse. In einem blauen See lagen die Kleinen und ein
lustiger Vogel trug sie den Eltern zu. Oder eine rote Lotosblüte
öffnete sich zu einem Kindergesicht. Oder eine jungfräulich
schöne Göttin stieg an einem Jubelmorgen in nackter Reine
aus dem Schaum der See. Oder aus dem zerspaltenen
Denkerhaupte eines weltgebietenden Mannes sprang wie ein
Geisteskind Pallas Athene hervor.

Nun der wirkliche Hergang.

Credo, quia absurdum!

Giebt es eine absurdere, unglaublichere Thatsache, als daß
der höchste, heiligste Liebesakt des Menschen gebunden ist an
die Organe der Harnabscheidung? Organe, durch die all¬
täglich eine der häßlichen Kloaken des Leibes abfließt. Der
feinste, höchste, edelste Extrakt alles Menschentums der Jahr¬
tausende strömt ein und aus durch dieselbe Pforte, die einen
übelriechenden Abfallsstoff der Nahrung, den die Individualität
des Einzelmenschen entrüstet zurückgewiesen hat, gewohnheits¬
mäßig wieder hinausbefördert. Der Abgesandte des fort¬
schaffenden Weltprinzips, der wahre große Dichter des ewigen Epos
"Menschheit", der Atlas, der uns alle auf seiner stolzen Schulter

Ein Blick in echter Liebe, ein Händedruck in ſtarker Empfindung,
daß wir „zwei“ ſein wollten und doch eins, ein Liebes-
Individuum, — und die Uhr wäre aufgezogen und arbeitete
leiſe tickend das Kind dieſer Liebe aus bis zum Stundenſchlage
der Geburt ..... Und dieſes Liebeskind, warum ſollte es
nicht reifen inmitten der reinſten Leibesſchöne der Mutter?
Warum ſollte es nicht blühen aus ihr wie eine liebliche bunte
Blume, eine Roſe, die etwa zwiſchen ihren weißen Brüſten
keimte und ſich rötete? Oder ſich von ihrer brennenden Lippe
löſen wie ein großes Segenswort, ein Heilſpruch der Menſch¬
heit, den ja ein ſolches neues Kindlein wirklich darſtellt?
Immer, wenn der Menſch ſich eine kindlich reine Inſel der
Seligen ausgemalt hat, hat er geträumt, daß auch die
Schaffung, das Werden des neuen Menſchen irgendwie dort
ſo ſein müſſe. In einem blauen See lagen die Kleinen und ein
luſtiger Vogel trug ſie den Eltern zu. Oder eine rote Lotosblüte
öffnete ſich zu einem Kindergeſicht. Oder eine jungfräulich
ſchöne Göttin ſtieg an einem Jubelmorgen in nackter Reine
aus dem Schaum der See. Oder aus dem zerſpaltenen
Denkerhaupte eines weltgebietenden Mannes ſprang wie ein
Geiſteskind Pallas Athene hervor.

Nun der wirkliche Hergang.

Credo, quia absurdum!

Giebt es eine abſurdere, unglaublichere Thatſache, als daß
der höchſte, heiligſte Liebesakt des Menſchen gebunden iſt an
die Organe der Harnabſcheidung? Organe, durch die all¬
täglich eine der häßlichen Kloaken des Leibes abfließt. Der
feinſte, höchſte, edelſte Extrakt alles Menſchentums der Jahr¬
tauſende ſtrömt ein und aus durch dieſelbe Pforte, die einen
übelriechenden Abfallsſtoff der Nahrung, den die Individualität
des Einzelmenſchen entrüſtet zurückgewieſen hat, gewohnheits¬
mäßig wieder hinausbefördert. Der Abgeſandte des fort¬
ſchaffenden Weltprinzips, der wahre große Dichter des ewigen Epos
„Menſchheit“, der Atlas, der uns alle auf ſeiner ſtolzen Schulter

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[184/0200] Ein Blick in echter Liebe, ein Händedruck in ſtarker Empfindung, daß wir „zwei“ ſein wollten und doch eins, ein Liebes- Individuum, — und die Uhr wäre aufgezogen und arbeitete leiſe tickend das Kind dieſer Liebe aus bis zum Stundenſchlage der Geburt ..... Und dieſes Liebeskind, warum ſollte es nicht reifen inmitten der reinſten Leibesſchöne der Mutter? Warum ſollte es nicht blühen aus ihr wie eine liebliche bunte Blume, eine Roſe, die etwa zwiſchen ihren weißen Brüſten keimte und ſich rötete? Oder ſich von ihrer brennenden Lippe löſen wie ein großes Segenswort, ein Heilſpruch der Menſch¬ heit, den ja ein ſolches neues Kindlein wirklich darſtellt? Immer, wenn der Menſch ſich eine kindlich reine Inſel der Seligen ausgemalt hat, hat er geträumt, daß auch die Schaffung, das Werden des neuen Menſchen irgendwie dort ſo ſein müſſe. In einem blauen See lagen die Kleinen und ein luſtiger Vogel trug ſie den Eltern zu. Oder eine rote Lotosblüte öffnete ſich zu einem Kindergeſicht. Oder eine jungfräulich ſchöne Göttin ſtieg an einem Jubelmorgen in nackter Reine aus dem Schaum der See. Oder aus dem zerſpaltenen Denkerhaupte eines weltgebietenden Mannes ſprang wie ein Geiſteskind Pallas Athene hervor. Nun der wirkliche Hergang. Credo, quia absurdum! Giebt es eine abſurdere, unglaublichere Thatſache, als daß der höchſte, heiligſte Liebesakt des Menſchen gebunden iſt an die Organe der Harnabſcheidung? Organe, durch die all¬ täglich eine der häßlichen Kloaken des Leibes abfließt. Der feinſte, höchſte, edelſte Extrakt alles Menſchentums der Jahr¬ tauſende ſtrömt ein und aus durch dieſelbe Pforte, die einen übelriechenden Abfallsſtoff der Nahrung, den die Individualität des Einzelmenſchen entrüſtet zurückgewieſen hat, gewohnheits¬ mäßig wieder hinausbefördert. Der Abgeſandte des fort¬ ſchaffenden Weltprinzips, der wahre große Dichter des ewigen Epos „Menſchheit“, der Atlas, der uns alle auf ſeiner ſtolzen Schulter

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/200>, abgerufen am 22.11.2024.