"Blüh' auf, gefrorner Christ! Der Mai ist vor der Thür: Du bleibest ewig tot, Blühst du nicht jetzt und hier."
Angelus Silesius
Aber wir haben nicht die geringste Lust, in die Wüste zu gehen. Wir wollen uns auf den Rücken legen und fröhlich in das goldgrüne Laub hinaufträumen.
Es giebt ja gar nicht jenes Zweierlei: jenen Gott, der den Menschen so und so gut erschaffen wollte; und diesen armen Jammermenschen, der nun gleichwohl so und so miserabel geworden ist. Es giebt nur eine Menschheit, die ein uralter Kämpfer ist. Was sie hat, hat sie aus sich. Sie war einmal Nebelfleck, Sonne, Urzelle, Wurm und Fisch. Und jetzt ist sie Mensch, nicht weil Gott sie so geschaffen hat, sondern weil ihr Riesenarm immer weiteres umgriffen hat, zum Nebelfleck die Sonne, zur Sonne die Urzelle, zur Urzelle den Wurm und zum Wurm den Fisch. Und endlich auch den äußersten Jahres¬ ring, den grünsten und letzten, -- den du Mensch nennst.
Alles was da hinstürmt über dich als wahnsinniger Liebes¬ widerspruch, -- in allem ist, wenn du sie nur zu finden weißt, eine tiefe, ernste, feierliche Melodie. Eine Friedensmelodie. Sie geht ganz in der Tiefe. Es rauscht und rauscht.
[Abbildung]
„Blüh' auf, gefrorner Chriſt! Der Mai iſt vor der Thür: Du bleibeſt ewig tot, Blühſt du nicht jetzt und hier.“
Angelus Sileſius
Aber wir haben nicht die geringſte Luſt, in die Wüſte zu gehen. Wir wollen uns auf den Rücken legen und fröhlich in das goldgrüne Laub hinaufträumen.
Es giebt ja gar nicht jenes Zweierlei: jenen Gott, der den Menſchen ſo und ſo gut erſchaffen wollte; und dieſen armen Jammermenſchen, der nun gleichwohl ſo und ſo miſerabel geworden iſt. Es giebt nur eine Menſchheit, die ein uralter Kämpfer iſt. Was ſie hat, hat ſie aus ſich. Sie war einmal Nebelfleck, Sonne, Urzelle, Wurm und Fiſch. Und jetzt iſt ſie Menſch, nicht weil Gott ſie ſo geſchaffen hat, ſondern weil ihr Rieſenarm immer weiteres umgriffen hat, zum Nebelfleck die Sonne, zur Sonne die Urzelle, zur Urzelle den Wurm und zum Wurm den Fiſch. Und endlich auch den äußerſten Jahres¬ ring, den grünſten und letzten, — den du Menſch nennſt.
Alles was da hinſtürmt über dich als wahnſinniger Liebes¬ widerſpruch, — in allem iſt, wenn du ſie nur zu finden weißt, eine tiefe, ernſte, feierliche Melodie. Eine Friedensmelodie. Sie geht ganz in der Tiefe. Es rauſcht und rauſcht.
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[Abbildung]
„Blüh' auf, gefrorner Chriſt!
Der Mai iſt vor der Thür:
Du bleibeſt ewig tot,
Blühſt du nicht jetzt und hier.“
Angelus Sileſius
Aber wir haben nicht die geringſte Luſt, in die Wüſte zu
gehen. Wir wollen uns auf den Rücken legen und fröhlich
in das goldgrüne Laub hinaufträumen.
Es giebt ja gar nicht jenes Zweierlei: jenen Gott, der
den Menſchen ſo und ſo gut erſchaffen wollte; und dieſen
armen Jammermenſchen, der nun gleichwohl ſo und ſo miſerabel
geworden iſt. Es giebt nur eine Menſchheit, die ein uralter
Kämpfer iſt. Was ſie hat, hat ſie aus ſich. Sie war einmal
Nebelfleck, Sonne, Urzelle, Wurm und Fiſch. Und jetzt iſt ſie
Menſch, nicht weil Gott ſie ſo geſchaffen hat, ſondern weil ihr
Rieſenarm immer weiteres umgriffen hat, zum Nebelfleck die
Sonne, zur Sonne die Urzelle, zur Urzelle den Wurm und
zum Wurm den Fiſch. Und endlich auch den äußerſten Jahres¬
ring, den grünſten und letzten, — den du Menſch nennſt.
Alles was da hinſtürmt über dich als wahnſinniger Liebes¬
widerſpruch, — in allem iſt, wenn du ſie nur zu finden weißt,
eine tiefe, ernſte, feierliche Melodie. Eine Friedensmelodie.
Sie geht ganz in der Tiefe. Es rauſcht und rauſcht.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/203>, abgerufen am 22.11.2024.
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