Mit dieser Weltgeschichte liegst du auf deinem Liebeslager. Du starrst deinen nackten Körper als Zweifler an. Starrst deine Geliebte an. Und du findest keine Antwort. Aber du mußt hindurch sehen durch die beiden. Sieh den weißen Leib deiner Geliebten sich leise, im Takte jener still rauschenden Melodie, auflösen zum bläulichen Nebelfleck, sieh ihn auf¬ flammen als Sonne, abglühen zum roten Stern. Sieh ihn mit tausend weichen Protoplasmafüßchen sich hinziehen am Strande des ältesten Ozeans. Als vielgliederigen, braunen Wurm sich ringeln, als silberschuppigen Fisch dahinschießen, als grüne Eidechse in der Sonne liegen. Und dann sieh deine Liebe in alle das hinein. Die Teufelsmaske des Absurden fällt. Du betest nicht mehr. Und fluchst nicht mehr. Du begreifst.
[Abbildung]
Jede jener "Absurditäten" ist als Thatsache richtig. Aber jede dieser Thatsachen ist zugleich ein Wegweiser zu einem Stück Geschichte. Die Geschichte als solche ist nun niemals und nirgendwo eine Absurdität. Sie liefert uns als Ganzes den höchsten Wert unseres Lebens, die Grundlage aller Philosophie: die große Hauptthatsache nämlich der fort¬ schreitenden Entwickelung. Ohne diese Geschichtsbasis wäre unsere Existenz eine Dummheit, eine Seifenblase, ein Spuk. Wenn also etwas sich in diese Geschichte einordnet, so er¬ steht es uns sogleich mit einem ganz anderen, einem ver¬ klärten Antlitz. Und zumal wenn es in unserer eigensten, engsten Menschheitsgeschichte uns aufersteht. Unter den heiligen
Geſchichte iſt es, was da unten rauſcht.
Deine Weltgeſchichte.
Mit dieſer Weltgeſchichte liegſt du auf deinem Liebeslager. Du ſtarrſt deinen nackten Körper als Zweifler an. Starrſt deine Geliebte an. Und du findeſt keine Antwort. Aber du mußt hindurch ſehen durch die beiden. Sieh den weißen Leib deiner Geliebten ſich leiſe, im Takte jener ſtill rauſchenden Melodie, auflöſen zum bläulichen Nebelfleck, ſieh ihn auf¬ flammen als Sonne, abglühen zum roten Stern. Sieh ihn mit tauſend weichen Protoplasmafüßchen ſich hinziehen am Strande des älteſten Ozeans. Als vielgliederigen, braunen Wurm ſich ringeln, als ſilberſchuppigen Fiſch dahinſchießen, als grüne Eidechſe in der Sonne liegen. Und dann ſieh deine Liebe in alle das hinein. Die Teufelsmaske des Abſurden fällt. Du beteſt nicht mehr. Und fluchſt nicht mehr. Du begreifſt.
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Jede jener „Abſurditäten“ iſt als Thatſache richtig. Aber jede dieſer Thatſachen iſt zugleich ein Wegweiſer zu einem Stück Geſchichte. Die Geſchichte als ſolche iſt nun niemals und nirgendwo eine Abſurdität. Sie liefert uns als Ganzes den höchſten Wert unſeres Lebens, die Grundlage aller Philoſophie: die große Hauptthatſache nämlich der fort¬ ſchreitenden Entwickelung. Ohne dieſe Geſchichtsbaſis wäre unſere Exiſtenz eine Dummheit, eine Seifenblaſe, ein Spuk. Wenn alſo etwas ſich in dieſe Geſchichte einordnet, ſo er¬ ſteht es uns ſogleich mit einem ganz anderen, einem ver¬ klärten Antlitz. Und zumal wenn es in unſerer eigenſten, engſten Menſchheitsgeſchichte uns auferſteht. Unter den heiligen
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Geſchichte iſt es, was da unten rauſcht.
Deine Weltgeſchichte.
Mit dieſer Weltgeſchichte liegſt du auf deinem Liebeslager.
Du ſtarrſt deinen nackten Körper als Zweifler an. Starrſt
deine Geliebte an. Und du findeſt keine Antwort. Aber du
mußt hindurch ſehen durch die beiden. Sieh den weißen Leib
deiner Geliebten ſich leiſe, im Takte jener ſtill rauſchenden
Melodie, auflöſen zum bläulichen Nebelfleck, ſieh ihn auf¬
flammen als Sonne, abglühen zum roten Stern. Sieh ihn
mit tauſend weichen Protoplasmafüßchen ſich hinziehen am
Strande des älteſten Ozeans. Als vielgliederigen, braunen Wurm
ſich ringeln, als ſilberſchuppigen Fiſch dahinſchießen, als grüne
Eidechſe in der Sonne liegen. Und dann ſieh deine Liebe in
alle das hinein. Die Teufelsmaske des Abſurden fällt. Du
beteſt nicht mehr. Und fluchſt nicht mehr. Du begreifſt.
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Jede jener „Abſurditäten“ iſt als Thatſache richtig.
Aber jede dieſer Thatſachen iſt zugleich ein Wegweiſer zu
einem Stück Geſchichte. Die Geſchichte als ſolche iſt nun
niemals und nirgendwo eine Abſurdität. Sie liefert uns als
Ganzes den höchſten Wert unſeres Lebens, die Grundlage
aller Philoſophie: die große Hauptthatſache nämlich der fort¬
ſchreitenden Entwickelung. Ohne dieſe Geſchichtsbaſis wäre
unſere Exiſtenz eine Dummheit, eine Seifenblaſe, ein Spuk.
Wenn alſo etwas ſich in dieſe Geſchichte einordnet, ſo er¬
ſteht es uns ſogleich mit einem ganz anderen, einem ver¬
klärten Antlitz. Und zumal wenn es in unſerer eigenſten,
engſten Menſchheitsgeſchichte uns auferſteht. Unter den heiligen
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/204>, abgerufen am 23.11.2024.
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