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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Lappen auf dem Sand. Eine Seeanemone, der feuchtweiße
Leib knorpelig weich gekrümmt, leises Spiel in den Tentakeln
oben, die wie ein halbgeöffneter Blumenkohl vorquellen. Ein
silberblauer Fisch beugt die goldig purpurnen Florideenblätter
auseinander. Eine rosenrote Qualle steigt in langsamen Stößen
wie atmend die smaragdene Wassersäule hinan. Und nun mit
einem Ruck, oben ganz hinaus aus dieser Spukwelt: freie
Fläche, auf der der Wind spielt; schwärzliche Klippen; wildes
Inselland mit kreischenden weißen Möven; und auf der Klippe
sitzt ein junges Menschenmädchen, die nackten Füßchen im
Wasser -- und singt, -- über die Felsen, zu den Möven und
dem Wind hinauf. Der Mensch .....

Oder du wanderst durch einsame Gebirgsöde. Ein wildes
Thal zum Paß. Jenseits der Baumgrenze. Gelbliche, zer¬
schrundene, von der Erosion zerfressene Felswände, an denen
oben nur graue Watteballen von Wolken träge wie angeklebt
hängen. Ein ganz weißzerschäumter Bach neben dir, dessen
Lärm jeden anderen Laut tötet. Unter deinem Tritt biegen
sich widerspenstig kleine, zähe Alpenrosenbüschel wie tiefgrüne
Besen. Im blaßblauen Himmelsausschnitt über dir schwebt
ein Raubvogel. Alles ist riesig, urweltlich, wie auf fremdem
Planeten. Und da plötzlich du .... du meinst, du siehst dich
selbst, den punktgleich winzigen Wanderer, der da Schritt für
Schritt diese Gebirgsöde emporklimmt. Und jählings erscheint
dir der Mensch als das ganz Ungeheure.

Was ist das Stückchen grünes Aquarium voll Seegezeug,
was sind die paar Felsen mit ihrem Wolkenrauch! Das Ge¬
hirn des kleinen Mädchens dort ist eine unendlich viel wunder¬
barere Ozeanstiefe. Dein Gedanke, der in Bergschrunde taucht,
ist das Mysterium; in ihm ist alles: der Fels, der Adler, die
Alpenrose, Urwelt und Gegenwart.

Nun sage dir aber, daß das ein erstes Mal da war.
In ganz fernen Tagen -- und zum ersten Mal als etwas
Neues dieser Mensch .... Eine Stunde ohnegleichen. Die alte

Lappen auf dem Sand. Eine Seeanemone, der feuchtweiße
Leib knorpelig weich gekrümmt, leiſes Spiel in den Tentakeln
oben, die wie ein halbgeöffneter Blumenkohl vorquellen. Ein
ſilberblauer Fiſch beugt die goldig purpurnen Florideenblätter
auseinander. Eine roſenrote Qualle ſteigt in langſamen Stößen
wie atmend die ſmaragdene Waſſerſäule hinan. Und nun mit
einem Ruck, oben ganz hinaus aus dieſer Spukwelt: freie
Fläche, auf der der Wind ſpielt; ſchwärzliche Klippen; wildes
Inſelland mit kreiſchenden weißen Möven; und auf der Klippe
ſitzt ein junges Menſchenmädchen, die nackten Füßchen im
Waſſer — und ſingt, — über die Felſen, zu den Möven und
dem Wind hinauf. Der Menſch .....

Oder du wanderſt durch einſame Gebirgsöde. Ein wildes
Thal zum Paß. Jenſeits der Baumgrenze. Gelbliche, zer¬
ſchrundene, von der Eroſion zerfreſſene Felswände, an denen
oben nur graue Watteballen von Wolken träge wie angeklebt
hängen. Ein ganz weißzerſchäumter Bach neben dir, deſſen
Lärm jeden anderen Laut tötet. Unter deinem Tritt biegen
ſich widerſpenſtig kleine, zähe Alpenroſenbüſchel wie tiefgrüne
Beſen. Im blaßblauen Himmelsausſchnitt über dir ſchwebt
ein Raubvogel. Alles iſt rieſig, urweltlich, wie auf fremdem
Planeten. Und da plötzlich du .... du meinſt, du ſiehſt dich
ſelbſt, den punktgleich winzigen Wanderer, der da Schritt für
Schritt dieſe Gebirgsöde emporklimmt. Und jählings erſcheint
dir der Menſch als das ganz Ungeheure.

Was iſt das Stückchen grünes Aquarium voll Seegezeug,
was ſind die paar Felſen mit ihrem Wolkenrauch! Das Ge¬
hirn des kleinen Mädchens dort iſt eine unendlich viel wunder¬
barere Ozeanstiefe. Dein Gedanke, der in Bergſchrunde taucht,
iſt das Myſterium; in ihm iſt alles: der Fels, der Adler, die
Alpenroſe, Urwelt und Gegenwart.

Nun ſage dir aber, daß das ein erſtes Mal da war.
In ganz fernen Tagen — und zum erſten Mal als etwas
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[9/0025] Lappen auf dem Sand. Eine Seeanemone, der feuchtweiße Leib knorpelig weich gekrümmt, leiſes Spiel in den Tentakeln oben, die wie ein halbgeöffneter Blumenkohl vorquellen. Ein ſilberblauer Fiſch beugt die goldig purpurnen Florideenblätter auseinander. Eine roſenrote Qualle ſteigt in langſamen Stößen wie atmend die ſmaragdene Waſſerſäule hinan. Und nun mit einem Ruck, oben ganz hinaus aus dieſer Spukwelt: freie Fläche, auf der der Wind ſpielt; ſchwärzliche Klippen; wildes Inſelland mit kreiſchenden weißen Möven; und auf der Klippe ſitzt ein junges Menſchenmädchen, die nackten Füßchen im Waſſer — und ſingt, — über die Felſen, zu den Möven und dem Wind hinauf. Der Menſch ..... Oder du wanderſt durch einſame Gebirgsöde. Ein wildes Thal zum Paß. Jenſeits der Baumgrenze. Gelbliche, zer¬ ſchrundene, von der Eroſion zerfreſſene Felswände, an denen oben nur graue Watteballen von Wolken träge wie angeklebt hängen. Ein ganz weißzerſchäumter Bach neben dir, deſſen Lärm jeden anderen Laut tötet. Unter deinem Tritt biegen ſich widerſpenſtig kleine, zähe Alpenroſenbüſchel wie tiefgrüne Beſen. Im blaßblauen Himmelsausſchnitt über dir ſchwebt ein Raubvogel. Alles iſt rieſig, urweltlich, wie auf fremdem Planeten. Und da plötzlich du .... du meinſt, du ſiehſt dich ſelbſt, den punktgleich winzigen Wanderer, der da Schritt für Schritt dieſe Gebirgsöde emporklimmt. Und jählings erſcheint dir der Menſch als das ganz Ungeheure. Was iſt das Stückchen grünes Aquarium voll Seegezeug, was ſind die paar Felſen mit ihrem Wolkenrauch! Das Ge¬ hirn des kleinen Mädchens dort iſt eine unendlich viel wunder¬ barere Ozeanstiefe. Dein Gedanke, der in Bergſchrunde taucht, iſt das Myſterium; in ihm iſt alles: der Fels, der Adler, die Alpenroſe, Urwelt und Gegenwart. Nun ſage dir aber, daß das ein erſtes Mal da war. In ganz fernen Tagen — und zum erſten Mal als etwas Neues dieſer Menſch .... Eine Stunde ohnegleichen. Die alte

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/25>, abgerufen am 24.11.2024.