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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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reinigten Welt, die das Gewand nicht mehr braucht. Und
doch: seltsame Erfahrung.

Groteske blecherne Feigenblätter gewahrst du; grobe Farb¬
flecken, aufgepinselt auf die ewige Herrlichkeit einer begnadeten
Künstlerphantasie.

Du lächelst. Wunderliche Menschheit. So reich schon
und noch so arm. Weißt du noch die alte liebe Sage von
Melusine? An Schönheit und Kraft war sie edler als jedes
Menschenweib. Aber in ihren Sternen stand mit unerbittlicher
Schrift, daß sie einmal in jedem Monat den alten Fischschwanz
eines niederen Weltzusammenhanges an sich fühlen sollte. Und
dann barg sie sich wie eine zerknirschte Sünderin im ver¬
riegelten Turm.

Es ist der verriegelte Turm der Menschheit, dieses blecherne
Feigenblatt auf dem Mannesgliede einer Schöpfung Michelangelos.
Und dieses Glied selber ist Melusinens Fischschweif noch für unsere
grobe Auffassung. Der Künstler hätte auch Melusine in der halben
Fischheit ihrer bösen Stunde harmlos nachgebildet. Aber sie
selber schämte sich. Und so fühlt der Sinn, der diese Feigen¬
blätter geschaffen hat, sich heute noch gekreuzigt gerade an diesem
einen Punkte auf seine Tierheit, seine angebliche Niedrigkeit.

Sonderbare Dämmerungswanderung. Das Organ seines
ewigen Lichtgangs seit Jahrmillionen will der Mensch noch
nicht gelten lassen. Seinen Anblick scheut er selbst in der
Idealgestalt des größten Meisters wie ein Gorgonenhaupt.
An diesem Stückchen Marmor, das hier als Symbol warm¬
lebendiger Menschlichkeit ragt, hat die Menschheit sich in Wahr¬
heit heraufgeklettert durch den unendlichen Strom der Zeiten.
Hier lag die Unsterblichkeit, die Tier auf Tier schob und
immer wieder abschob in immer stärkeren Beschwörungen, bis
endlich der Pudel und das Nilpferd hinter dem Ofen des
Weltenfaustus platzten und der Mensch hervorsprang. Hier
warf und verschlang sich immer wieder das goldene Parzenseil,
in dem jeder Knoten eine Seele ist. Und Seele um Seele

reinigten Welt, die das Gewand nicht mehr braucht. Und
doch: ſeltſame Erfahrung.

Groteske blecherne Feigenblätter gewahrſt du; grobe Farb¬
flecken, aufgepinſelt auf die ewige Herrlichkeit einer begnadeten
Künſtlerphantaſie.

Du lächelſt. Wunderliche Menſchheit. So reich ſchon
und noch ſo arm. Weißt du noch die alte liebe Sage von
Meluſine? An Schönheit und Kraft war ſie edler als jedes
Menſchenweib. Aber in ihren Sternen ſtand mit unerbittlicher
Schrift, daß ſie einmal in jedem Monat den alten Fiſchſchwanz
eines niederen Weltzuſammenhanges an ſich fühlen ſollte. Und
dann barg ſie ſich wie eine zerknirſchte Sünderin im ver¬
riegelten Turm.

Es iſt der verriegelte Turm der Menſchheit, dieſes blecherne
Feigenblatt auf dem Mannesgliede einer Schöpfung Michelangelos.
Und dieſes Glied ſelber iſt Meluſinens Fiſchſchweif noch für unſere
grobe Auffaſſung. Der Künſtler hätte auch Meluſine in der halben
Fiſchheit ihrer böſen Stunde harmlos nachgebildet. Aber ſie
ſelber ſchämte ſich. Und ſo fühlt der Sinn, der dieſe Feigen¬
blätter geſchaffen hat, ſich heute noch gekreuzigt gerade an dieſem
einen Punkte auf ſeine Tierheit, ſeine angebliche Niedrigkeit.

Sonderbare Dämmerungswanderung. Das Organ ſeines
ewigen Lichtgangs ſeit Jahrmillionen will der Menſch noch
nicht gelten laſſen. Seinen Anblick ſcheut er ſelbſt in der
Idealgeſtalt des größten Meiſters wie ein Gorgonenhaupt.
An dieſem Stückchen Marmor, das hier als Symbol warm¬
lebendiger Menſchlichkeit ragt, hat die Menſchheit ſich in Wahr¬
heit heraufgeklettert durch den unendlichen Strom der Zeiten.
Hier lag die Unſterblichkeit, die Tier auf Tier ſchob und
immer wieder abſchob in immer ſtärkeren Beſchwörungen, bis
endlich der Pudel und das Nilpferd hinter dem Ofen des
Weltenfauſtus platzten und der Menſch hervorſprang. Hier
warf und verſchlang ſich immer wieder das goldene Parzenſeil,
in dem jeder Knoten eine Seele iſt. Und Seele um Seele

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[264/0280] reinigten Welt, die das Gewand nicht mehr braucht. Und doch: ſeltſame Erfahrung. Groteske blecherne Feigenblätter gewahrſt du; grobe Farb¬ flecken, aufgepinſelt auf die ewige Herrlichkeit einer begnadeten Künſtlerphantaſie. Du lächelſt. Wunderliche Menſchheit. So reich ſchon und noch ſo arm. Weißt du noch die alte liebe Sage von Meluſine? An Schönheit und Kraft war ſie edler als jedes Menſchenweib. Aber in ihren Sternen ſtand mit unerbittlicher Schrift, daß ſie einmal in jedem Monat den alten Fiſchſchwanz eines niederen Weltzuſammenhanges an ſich fühlen ſollte. Und dann barg ſie ſich wie eine zerknirſchte Sünderin im ver¬ riegelten Turm. Es iſt der verriegelte Turm der Menſchheit, dieſes blecherne Feigenblatt auf dem Mannesgliede einer Schöpfung Michelangelos. Und dieſes Glied ſelber iſt Meluſinens Fiſchſchweif noch für unſere grobe Auffaſſung. Der Künſtler hätte auch Meluſine in der halben Fiſchheit ihrer böſen Stunde harmlos nachgebildet. Aber ſie ſelber ſchämte ſich. Und ſo fühlt der Sinn, der dieſe Feigen¬ blätter geſchaffen hat, ſich heute noch gekreuzigt gerade an dieſem einen Punkte auf ſeine Tierheit, ſeine angebliche Niedrigkeit. Sonderbare Dämmerungswanderung. Das Organ ſeines ewigen Lichtgangs ſeit Jahrmillionen will der Menſch noch nicht gelten laſſen. Seinen Anblick ſcheut er ſelbſt in der Idealgeſtalt des größten Meiſters wie ein Gorgonenhaupt. An dieſem Stückchen Marmor, das hier als Symbol warm¬ lebendiger Menſchlichkeit ragt, hat die Menſchheit ſich in Wahr¬ heit heraufgeklettert durch den unendlichen Strom der Zeiten. Hier lag die Unſterblichkeit, die Tier auf Tier ſchob und immer wieder abſchob in immer ſtärkeren Beſchwörungen, bis endlich der Pudel und das Nilpferd hinter dem Ofen des Weltenfauſtus platzten und der Menſch hervorſprang. Hier warf und verſchlang ſich immer wieder das goldene Parzenſeil, in dem jeder Knoten eine Seele iſt. Und Seele um Seele

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/280>, abgerufen am 22.11.2024.