Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.überbrückt. Rafael ist gestorben, sein Bild lebt aber noch. Nun aber nimm jenen märchenhaft blauen Rudolfs-Paradies¬ Und ich -- ich finde ihn "schön". Was heißt das jetzt? Ich als Mensch finde ihn schön. Er ist ein Vogel, ein Ist der Fall nicht doch ganz anders wie bei Rafael? Bei dem Paradiesvogel ist scheinbar nur die halbe Kreis¬ Indem ich sie empfinde, träume ich, ich finde auch in ihr überbrückt. Rafael iſt geſtorben, ſein Bild lebt aber noch. Nun aber nimm jenen märchenhaft blauen Rudolfs-Paradies¬ Und ich — ich finde ihn „ſchön“. Was heißt das jetzt? Ich als Menſch finde ihn ſchön. Er iſt ein Vogel, ein Iſt der Fall nicht doch ganz anders wie bei Rafael? Bei dem Paradiesvogel iſt ſcheinbar nur die halbe Kreis¬ Indem ich ſie empfinde, träume ich, ich finde auch in ihr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0366" n="350"/> überbrückt. Rafael iſt geſtorben, ſein Bild lebt aber noch.<lb/> Es lebt mit mir und entzückt mich heute noch. Hier iſt alles<lb/> kriſtallklar.</p><lb/> <p>Nun aber nimm jenen märchenhaft blauen Rudolfs-Paradies¬<lb/> vogel. Ich brauche nicht in die Vergangenheit zu gehen. Er<lb/> ſelbſt lebt neben mir, mein Zeitgenoſſe — wenn ſchon in recht<lb/> verrammeltem fernen Tropen-Eiland. Hier im Muſeum ſteht<lb/> er aber unmittelbar vor mir, nicht als Werk, ſondern er ſelbſt.</p><lb/> <p>Und ich — ich finde ihn „ſchön“.</p><lb/> <p>Was heißt das jetzt?</p><lb/> <p>Ich als Menſch finde ihn ſchön. Er iſt ein Vogel, ein<lb/> lebendes Weſen weit entfernt von mir. Mir kommt das Wort<lb/> auf die Lippen: welch herrliches Kunſtwerk iſt dieſer Vogel.<lb/> Aber da öffnen ſich auf einmal die ſeltſamſten Fragen.</p><lb/> <p>Iſt der Fall nicht doch ganz anders wie bei Rafael?<lb/> Rafael, ein Menſch, projiziert Schönheitsdinge nach außen und<lb/> ich finde ſie wieder ſchön — ein glatter Kreislauf. Das Bild<lb/> iſt im Grunde nur ein Stück von Rafaels Gehirn, in die<lb/> Zeitdauer hinein projiziert, das Gehirn ſelbſt aber iſt Ge¬<lb/> hirn des Menſchen und ich finde nur wieder, was ich ſelbſt<lb/> habe, wenn ich auch jene Projizierungskraft für mein Teil<lb/> nicht beſitze.</p><lb/> <p>Bei dem Paradiesvogel iſt ſcheinbar nur die halbe Kreis¬<lb/> linie ausgeſchrieben. Mein Gehirn findet ihn ſchön, unmittel¬<lb/> bar ſo bald es ihn ſieht. Aber ich vermiſſe zunächſt die andere<lb/> Kreishälfte. Welches Gehirn hat dieſen Vogel erſonnen? Hat<lb/> ihn als „Schönheit“ aus ſich herausprojiziert? Auf den erſten<lb/> Anblick fehlt mir jedes Band. Dieſer Paradiesvogel des<lb/> Rudolf mit ſeiner Farbenpracht der blauen Grotte von Capri<lb/> — er flog vielleicht ſchon in den Urwäldern jenes verwunſchenen<lb/> Neu-Guinea, als zuerſt Menſchen auf der Erde entſtanden.<lb/> Woher kam ſeine „Schönheit“?</p><lb/> <p>Indem ich ſie empfinde, träume ich, ich finde auch in ihr<lb/> wie in jener Madonna Rafaels etwas <hi rendition="#g">wieder</hi>.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [350/0366]
überbrückt. Rafael iſt geſtorben, ſein Bild lebt aber noch.
Es lebt mit mir und entzückt mich heute noch. Hier iſt alles
kriſtallklar.
Nun aber nimm jenen märchenhaft blauen Rudolfs-Paradies¬
vogel. Ich brauche nicht in die Vergangenheit zu gehen. Er
ſelbſt lebt neben mir, mein Zeitgenoſſe — wenn ſchon in recht
verrammeltem fernen Tropen-Eiland. Hier im Muſeum ſteht
er aber unmittelbar vor mir, nicht als Werk, ſondern er ſelbſt.
Und ich — ich finde ihn „ſchön“.
Was heißt das jetzt?
Ich als Menſch finde ihn ſchön. Er iſt ein Vogel, ein
lebendes Weſen weit entfernt von mir. Mir kommt das Wort
auf die Lippen: welch herrliches Kunſtwerk iſt dieſer Vogel.
Aber da öffnen ſich auf einmal die ſeltſamſten Fragen.
Iſt der Fall nicht doch ganz anders wie bei Rafael?
Rafael, ein Menſch, projiziert Schönheitsdinge nach außen und
ich finde ſie wieder ſchön — ein glatter Kreislauf. Das Bild
iſt im Grunde nur ein Stück von Rafaels Gehirn, in die
Zeitdauer hinein projiziert, das Gehirn ſelbſt aber iſt Ge¬
hirn des Menſchen und ich finde nur wieder, was ich ſelbſt
habe, wenn ich auch jene Projizierungskraft für mein Teil
nicht beſitze.
Bei dem Paradiesvogel iſt ſcheinbar nur die halbe Kreis¬
linie ausgeſchrieben. Mein Gehirn findet ihn ſchön, unmittel¬
bar ſo bald es ihn ſieht. Aber ich vermiſſe zunächſt die andere
Kreishälfte. Welches Gehirn hat dieſen Vogel erſonnen? Hat
ihn als „Schönheit“ aus ſich herausprojiziert? Auf den erſten
Anblick fehlt mir jedes Band. Dieſer Paradiesvogel des
Rudolf mit ſeiner Farbenpracht der blauen Grotte von Capri
— er flog vielleicht ſchon in den Urwäldern jenes verwunſchenen
Neu-Guinea, als zuerſt Menſchen auf der Erde entſtanden.
Woher kam ſeine „Schönheit“?
Indem ich ſie empfinde, träume ich, ich finde auch in ihr
wie in jener Madonna Rafaels etwas wieder.
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