Wir betrachten Paradiesvogel-Mann und Paradiesvogel- Weib.
Die Erwartung sagt uns, daß wir wohl auch in diesem Punkte hier auf mehr oder minder menschliche Verhältnisse geraten werden: zwar Verschiedenheit der Geschlechter, aber im Punkte des Ideals dabei Schön gegen Schön wie bei uns in der Venus von Milo und dem Hermes des Praxiteles.
Wieder gründlich daneben geschlagen!
[Abbildung]
Wenn bisher von der "Schönheit" des Paradiesvogels die Rede war, sei es bei dem großen goldenen oder bei dem kleinen rot-grün-weißen oder bei dem neuen blauen -- immer sind wir, ganz ohne es zu wollen, "Partei" gewesen. Wir haben einseitig den Mann betrachtet, den Mann bewundert, über den Mann Gedanken ausgesponnen.
Alle diese wunderbaren Paradiesier, wie wir sie hier unten in den Schränken des Museums vor Augen haben: es sind erwachsene, voll entwickelte Paradiesvogel-Männchen.
Dort oben aber, in schlichter Reihe, sitzen die Weibchen. Man fragt sich, was diese armseligen Vögel hier sollen. Denn der Kontrast ist so grell, daß selbst gewisse ganz hübsche sanfte Farben neben der Farbenorgie der Männchen notwendig arm¬ selig erscheinen müssen.
Da ist die ausgewachsene Frau jenes großen Paradiesiers, der die märchenhafte Goldwelle hinter sich herschleift: diese Frau ist oben braun wie Kaffee, an der Kehle, wo der Ge¬ mahl eine Agraffe von Smaragden trägt, von einem trivialen Rauchviolett, am Bauche fahlgelblich; die ganze Welle ange¬ hängter Schmuckfedern fehlt vollkommen. Wenn man diesen weiblichen Vogel anschaut, so begreift man erst, daß die Para¬ diesier im System eng an die Krähen und an die Stare
Wir betrachten Paradiesvogel-Mann und Paradiesvogel- Weib.
Die Erwartung ſagt uns, daß wir wohl auch in dieſem Punkte hier auf mehr oder minder menſchliche Verhältniſſe geraten werden: zwar Verſchiedenheit der Geſchlechter, aber im Punkte des Ideals dabei Schön gegen Schön wie bei uns in der Venus von Milo und dem Hermes des Praxiteles.
Wieder gründlich daneben geſchlagen!
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Wenn bisher von der „Schönheit“ des Paradiesvogels die Rede war, ſei es bei dem großen goldenen oder bei dem kleinen rot-grün-weißen oder bei dem neuen blauen — immer ſind wir, ganz ohne es zu wollen, „Partei“ geweſen. Wir haben einſeitig den Mann betrachtet, den Mann bewundert, über den Mann Gedanken ausgeſponnen.
Alle dieſe wunderbaren Paradieſier, wie wir ſie hier unten in den Schränken des Muſeums vor Augen haben: es ſind erwachſene, voll entwickelte Paradiesvogel-Männchen.
Dort oben aber, in ſchlichter Reihe, ſitzen die Weibchen. Man fragt ſich, was dieſe armſeligen Vögel hier ſollen. Denn der Kontraſt iſt ſo grell, daß ſelbſt gewiſſe ganz hübſche ſanfte Farben neben der Farbenorgie der Männchen notwendig arm¬ ſelig erſcheinen müſſen.
Da iſt die ausgewachſene Frau jenes großen Paradieſiers, der die märchenhafte Goldwelle hinter ſich herſchleift: dieſe Frau iſt oben braun wie Kaffee, an der Kehle, wo der Ge¬ mahl eine Agraffe von Smaragden trägt, von einem trivialen Rauchviolett, am Bauche fahlgelblich; die ganze Welle ange¬ hängter Schmuckfedern fehlt vollkommen. Wenn man dieſen weiblichen Vogel anſchaut, ſo begreift man erſt, daß die Para¬ dieſier im Syſtem eng an die Krähen und an die Stare
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Wir betrachten Paradiesvogel-Mann und Paradiesvogel-
Weib.
Die Erwartung ſagt uns, daß wir wohl auch in dieſem
Punkte hier auf mehr oder minder menſchliche Verhältniſſe
geraten werden: zwar Verſchiedenheit der Geſchlechter, aber
im Punkte des Ideals dabei Schön gegen Schön wie bei uns
in der Venus von Milo und dem Hermes des Praxiteles.
Wieder gründlich daneben geſchlagen!
[Abbildung]
Wenn bisher von der „Schönheit“ des Paradiesvogels
die Rede war, ſei es bei dem großen goldenen oder bei dem
kleinen rot-grün-weißen oder bei dem neuen blauen — immer
ſind wir, ganz ohne es zu wollen, „Partei“ geweſen. Wir
haben einſeitig den Mann betrachtet, den Mann bewundert,
über den Mann Gedanken ausgeſponnen.
Alle dieſe wunderbaren Paradieſier, wie wir ſie hier
unten in den Schränken des Muſeums vor Augen haben: es
ſind erwachſene, voll entwickelte Paradiesvogel-Männchen.
Dort oben aber, in ſchlichter Reihe, ſitzen die Weibchen.
Man fragt ſich, was dieſe armſeligen Vögel hier ſollen. Denn
der Kontraſt iſt ſo grell, daß ſelbſt gewiſſe ganz hübſche ſanfte
Farben neben der Farbenorgie der Männchen notwendig arm¬
ſelig erſcheinen müſſen.
Da iſt die ausgewachſene Frau jenes großen Paradieſiers,
der die märchenhafte Goldwelle hinter ſich herſchleift: dieſe
Frau iſt oben braun wie Kaffee, an der Kehle, wo der Ge¬
mahl eine Agraffe von Smaragden trägt, von einem trivialen
Rauchviolett, am Bauche fahlgelblich; die ganze Welle ange¬
hängter Schmuckfedern fehlt vollkommen. Wenn man dieſen
weiblichen Vogel anſchaut, ſo begreift man erſt, daß die Para¬
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/381>, abgerufen am 22.11.2024.
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