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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Jetzt nimm den umgekehrten Fall. Einen ebenso einsamen
Knaben, der Mann wird. Auch ihm ist der Unterschied der
Geschlechter geistig vollkommen unbekannt geblieben. Das freie
Feld seines Bewußtseins ist in Hinsicht auf das ganze Geschlechts¬
leben wirklich vollständig weiß geblieben. Er hat nicht die
geringste Ahnung davon, daß es Wesen gebe, deren Leibes¬
apparat in bestimmter Hinsicht anders gebaut sein könnte als
sein eigener. Wenn er noch so viel grübelt, wird er doch aus
seinem Denken heraus sich niemals ein Bild erschließen können
von dem Körperbau eines Weibes. Er kennt ja nicht einmal
dieses Zweierlei in klarem Sinne. Und er kennt vollends
nicht die Möglichkeiten, wie die beiden Organisationen sich zu
einer Einheit ergänzen können. Merkwürdig genug aber auch
hier: sein Leib kennt unanzweifelbar alle diese Dinge. Seine
Körperzellen haben sich zunächst, als sie ihn überhaupt auf den
"Mann" zuschnitten, so geordnet, daß sich bei ihm das typische
Mannesorgan entwickelt hat. Dieses Mannesorgan wäre voll¬
kommen sinnlos, wenn es nicht jenem Sachverhalt genau an¬
gemessen wäre. Wie beim Weibe bildet es zugleich auch die
Ausgangspforte des Körpers für die Harnstoffe, also Abfall¬
stoffe der Ernährung, die einfach entfernt werden müssen. Nicht
die leiseste Ursache läge aus dieser Harn-Leistung heraus vor,
daß dann nicht eine einfache Pforte hier am Leibe bestehen
sollte, genau gleich der weiblichen für denselben Zweck. Wenn
die bauenden Zellen aber statt dessen schon im Kinde das
Mannesglied angelegt hatten in der allgemein bekannten Form,
so trugen sie eben nicht dem Harn-Akt, sondern dem Geschlechts-
Akt damit vorschauend Rechnung. Sie legten ein Organ an,
dessen Ergänzung die weibliche Scheide war. Das ihr nicht
entsprach im Sinne gleichen Aussehens, sondern grade um¬
gekehrt durch eine Verschiedenheit, die aber doch in Wahrheit
eine äußerst nützliche logische Ergänzung war. Die bauenden
Zellen, die diesem Organ die Gestalt eines vorspringenden,
keilartig geformten Körpers gaben, bauten unzweideutig mit

Jetzt nimm den umgekehrten Fall. Einen ebenſo einſamen
Knaben, der Mann wird. Auch ihm iſt der Unterſchied der
Geſchlechter geiſtig vollkommen unbekannt geblieben. Das freie
Feld ſeines Bewußtſeins iſt in Hinſicht auf das ganze Geſchlechts¬
leben wirklich vollſtändig weiß geblieben. Er hat nicht die
geringſte Ahnung davon, daß es Weſen gebe, deren Leibes¬
apparat in beſtimmter Hinſicht anders gebaut ſein könnte als
ſein eigener. Wenn er noch ſo viel grübelt, wird er doch aus
ſeinem Denken heraus ſich niemals ein Bild erſchließen können
von dem Körperbau eines Weibes. Er kennt ja nicht einmal
dieſes Zweierlei in klarem Sinne. Und er kennt vollends
nicht die Möglichkeiten, wie die beiden Organiſationen ſich zu
einer Einheit ergänzen können. Merkwürdig genug aber auch
hier: ſein Leib kennt unanzweifelbar alle dieſe Dinge. Seine
Körperzellen haben ſich zunächſt, als ſie ihn überhaupt auf den
„Mann“ zuſchnitten, ſo geordnet, daß ſich bei ihm das typiſche
Mannesorgan entwickelt hat. Dieſes Mannesorgan wäre voll¬
kommen ſinnlos, wenn es nicht jenem Sachverhalt genau an¬
gemeſſen wäre. Wie beim Weibe bildet es zugleich auch die
Ausgangspforte des Körpers für die Harnſtoffe, alſo Abfall¬
ſtoffe der Ernährung, die einfach entfernt werden müſſen. Nicht
die leiſeſte Urſache läge aus dieſer Harn-Leiſtung heraus vor,
daß dann nicht eine einfache Pforte hier am Leibe beſtehen
ſollte, genau gleich der weiblichen für denſelben Zweck. Wenn
die bauenden Zellen aber ſtatt deſſen ſchon im Kinde das
Mannesglied angelegt hatten in der allgemein bekannten Form,
ſo trugen ſie eben nicht dem Harn-Akt, ſondern dem Geſchlechts-
Akt damit vorſchauend Rechnung. Sie legten ein Organ an,
deſſen Ergänzung die weibliche Scheide war. Das ihr nicht
entſprach im Sinne gleichen Ausſehens, ſondern grade um¬
gekehrt durch eine Verſchiedenheit, die aber doch in Wahrheit
eine äußerſt nützliche logiſche Ergänzung war. Die bauenden
Zellen, die dieſem Organ die Geſtalt eines vorſpringenden,
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[52/0068] Jetzt nimm den umgekehrten Fall. Einen ebenſo einſamen Knaben, der Mann wird. Auch ihm iſt der Unterſchied der Geſchlechter geiſtig vollkommen unbekannt geblieben. Das freie Feld ſeines Bewußtſeins iſt in Hinſicht auf das ganze Geſchlechts¬ leben wirklich vollſtändig weiß geblieben. Er hat nicht die geringſte Ahnung davon, daß es Weſen gebe, deren Leibes¬ apparat in beſtimmter Hinſicht anders gebaut ſein könnte als ſein eigener. Wenn er noch ſo viel grübelt, wird er doch aus ſeinem Denken heraus ſich niemals ein Bild erſchließen können von dem Körperbau eines Weibes. Er kennt ja nicht einmal dieſes Zweierlei in klarem Sinne. Und er kennt vollends nicht die Möglichkeiten, wie die beiden Organiſationen ſich zu einer Einheit ergänzen können. Merkwürdig genug aber auch hier: ſein Leib kennt unanzweifelbar alle dieſe Dinge. Seine Körperzellen haben ſich zunächſt, als ſie ihn überhaupt auf den „Mann“ zuſchnitten, ſo geordnet, daß ſich bei ihm das typiſche Mannesorgan entwickelt hat. Dieſes Mannesorgan wäre voll¬ kommen ſinnlos, wenn es nicht jenem Sachverhalt genau an¬ gemeſſen wäre. Wie beim Weibe bildet es zugleich auch die Ausgangspforte des Körpers für die Harnſtoffe, alſo Abfall¬ ſtoffe der Ernährung, die einfach entfernt werden müſſen. Nicht die leiſeſte Urſache läge aus dieſer Harn-Leiſtung heraus vor, daß dann nicht eine einfache Pforte hier am Leibe beſtehen ſollte, genau gleich der weiblichen für denſelben Zweck. Wenn die bauenden Zellen aber ſtatt deſſen ſchon im Kinde das Mannesglied angelegt hatten in der allgemein bekannten Form, ſo trugen ſie eben nicht dem Harn-Akt, ſondern dem Geſchlechts- Akt damit vorſchauend Rechnung. Sie legten ein Organ an, deſſen Ergänzung die weibliche Scheide war. Das ihr nicht entſprach im Sinne gleichen Ausſehens, ſondern grade um¬ gekehrt durch eine Verſchiedenheit, die aber doch in Wahrheit eine äußerſt nützliche logiſche Ergänzung war. Die bauenden Zellen, die dieſem Organ die Geſtalt eines vorſpringenden, keilartig geformten Körpers gaben, bauten unzweideutig mit

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/68>, abgerufen am 24.11.2024.