einzelne wilde Völker gegenwärtig sogar noch giebt, wo das Bestiale so zurücktritt gegen diesen Kern, daß man fast noch das alte Bild greifen zu können meint. Jene Bakairi-Indianer in Centralbrasilien, die uns Karl von den Steinen kennen gelehrt hat, leben heute noch in der Steinzeit ohne Metall¬ waffen. Sie gehen so gut wie ganz nackt. Aber die brutalen Kannibalenzüge fehlen. Ein sanfter Zug liegt über ihren uralt geregelten Sozialverhältnissen, eine sonnige Heiterkeit über ihrem ganzen Wesen. Und die Kunst, lustige, in Ornamenten und Farben gleißende, phantasievoll sich auslebende Kunst füllt einen Hauptteil ihres Daseins. Über ihrer schönen Körper¬ nacktheit ragen Decke und Wand, Matte und Gerät in einem wahren Rausch von Kunst und Kunstgewerbe. Feste mit Tanz und Gesang ziehen sich wie eine Blumenkette durch ihr Leben. Das alles ist wohl verstanden, nicht mehr gesehen und beschrieben worden mit Rousseau- und Forsteraugen, sondern durch die Brille eines ausnehmend nüchtern denkenden Gelehrten modernster Schule. Eine solche Bakairi-Epoche nun möchte ich in der Urzeit des aufsteigenden Nordmenschen auf alle Fälle annehmen, sei sie nun zeitlich lokalisiert wie sie wolle und sollte man damit zurückgehen bis an die Grenze der immergrünen Tertiärwälder. Damals müssen beispielsweise die Kunsttriebe allgewaltig im Menschen erwacht sein, sie, die wir in den Tierbildern und Schnitzereien der Eiszeit so ausgeprägt finden und die wie ein unhemmbarer Strom auch durch alle Brutalität der späteren Wilden durchrauschen. Warum nicht ebenso auch die erste Menschentwickelung auf ethischem Gebiet dort suchen?
Es widerspräche diesen Anschauungen nicht gerade, sich den Urmenschen als zwerghaft kleine Rasse zu denken, -- nötig aber ist es nicht. Der Pithekanthropus von Java hat ja schon volle Europäergröße von heute. Wichtiger scheint mir, daß man den Menschen in seinem aufsteigenden Stamme ableitet von sanften Formen des höchsten Säugerastes, wobei gerade der Gibbon, dem jener Java-Affenmensch so nah ver¬
einzelne wilde Völker gegenwärtig ſogar noch giebt, wo das Beſtiale ſo zurücktritt gegen dieſen Kern, daß man faſt noch das alte Bild greifen zu können meint. Jene Bakairi-Indianer in Centralbraſilien, die uns Karl von den Steinen kennen gelehrt hat, leben heute noch in der Steinzeit ohne Metall¬ waffen. Sie gehen ſo gut wie ganz nackt. Aber die brutalen Kannibalenzüge fehlen. Ein ſanfter Zug liegt über ihren uralt geregelten Sozialverhältniſſen, eine ſonnige Heiterkeit über ihrem ganzen Weſen. Und die Kunſt, luſtige, in Ornamenten und Farben gleißende, phantaſievoll ſich auslebende Kunſt füllt einen Hauptteil ihres Daſeins. Über ihrer ſchönen Körper¬ nacktheit ragen Decke und Wand, Matte und Gerät in einem wahren Rauſch von Kunſt und Kunſtgewerbe. Feſte mit Tanz und Geſang ziehen ſich wie eine Blumenkette durch ihr Leben. Das alles iſt wohl verſtanden, nicht mehr geſehen und beſchrieben worden mit Rouſſeau- und Forſteraugen, ſondern durch die Brille eines ausnehmend nüchtern denkenden Gelehrten modernſter Schule. Eine ſolche Bakairi-Epoche nun möchte ich in der Urzeit des aufſteigenden Nordmenſchen auf alle Fälle annehmen, ſei ſie nun zeitlich lokaliſiert wie ſie wolle und ſollte man damit zurückgehen bis an die Grenze der immergrünen Tertiärwälder. Damals müſſen beiſpielsweiſe die Kunſttriebe allgewaltig im Menſchen erwacht ſein, ſie, die wir in den Tierbildern und Schnitzereien der Eiszeit ſo ausgeprägt finden und die wie ein unhemmbarer Strom auch durch alle Brutalität der ſpäteren Wilden durchrauſchen. Warum nicht ebenſo auch die erſte Menſchentwickelung auf ethiſchem Gebiet dort ſuchen?
Es widerſpräche dieſen Anſchauungen nicht gerade, ſich den Urmenſchen als zwerghaft kleine Raſſe zu denken, — nötig aber iſt es nicht. Der Pithekanthropus von Java hat ja ſchon volle Europäergröße von heute. Wichtiger ſcheint mir, daß man den Menſchen in ſeinem aufſteigenden Stamme ableitet von ſanften Formen des höchſten Säugeraſtes, wobei gerade der Gibbon, dem jener Java-Affenmenſch ſo nah ver¬
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einzelne wilde Völker gegenwärtig ſogar noch giebt, wo das
Beſtiale ſo zurücktritt gegen dieſen Kern, daß man faſt noch
das alte Bild greifen zu können meint. Jene Bakairi-Indianer
in Centralbraſilien, die uns Karl von den Steinen kennen
gelehrt hat, leben heute noch in der Steinzeit ohne Metall¬
waffen. Sie gehen ſo gut wie ganz nackt. Aber die brutalen
Kannibalenzüge fehlen. Ein ſanfter Zug liegt über ihren
uralt geregelten Sozialverhältniſſen, eine ſonnige Heiterkeit über
ihrem ganzen Weſen. Und die Kunſt, luſtige, in Ornamenten
und Farben gleißende, phantaſievoll ſich auslebende Kunſt
füllt einen Hauptteil ihres Daſeins. Über ihrer ſchönen Körper¬
nacktheit ragen Decke und Wand, Matte und Gerät in einem
wahren Rauſch von Kunſt und Kunſtgewerbe. Feſte mit Tanz
und Geſang ziehen ſich wie eine Blumenkette durch ihr Leben.
Das alles iſt wohl verſtanden, nicht mehr geſehen und beſchrieben
worden mit Rouſſeau- und Forſteraugen, ſondern durch die
Brille eines ausnehmend nüchtern denkenden Gelehrten modernſter
Schule. Eine ſolche Bakairi-Epoche nun möchte ich in der
Urzeit des aufſteigenden Nordmenſchen auf alle Fälle annehmen,
ſei ſie nun zeitlich lokaliſiert wie ſie wolle und ſollte man damit
zurückgehen bis an die Grenze der immergrünen Tertiärwälder.
Damals müſſen beiſpielsweiſe die Kunſttriebe allgewaltig im
Menſchen erwacht ſein, ſie, die wir in den Tierbildern und
Schnitzereien der Eiszeit ſo ausgeprägt finden und die wie
ein unhemmbarer Strom auch durch alle Brutalität der ſpäteren
Wilden durchrauſchen. Warum nicht ebenſo auch die erſte
Menſchentwickelung auf ethiſchem Gebiet dort ſuchen?
Es widerſpräche dieſen Anſchauungen nicht gerade, ſich
den Urmenſchen als zwerghaft kleine Raſſe zu denken, —
nötig aber iſt es nicht. Der Pithekanthropus von Java hat
ja ſchon volle Europäergröße von heute. Wichtiger ſcheint
mir, daß man den Menſchen in ſeinem aufſteigenden Stamme
ableitet von ſanften Formen des höchſten Säugeraſtes, wobei
gerade der Gibbon, dem jener Java-Affenmenſch ſo nah ver¬
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/100>, abgerufen am 21.11.2024.
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