ornamente. Das australische Ehepaar, das nach Stammes¬ brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der geringfügigsten Bequemlichkeitsrücksicht für selbstverständlich hält, liebt das erwachsende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des humansten Kulturmenschen und beweint seinen natürlichen Tod in den ergreifendsten Gemütslauten. Der Dajak auf Borneo, der auf die "Kopfjagd" geht und abgeschlagene Köpfe beliebiger ihm begegnender Menschen sammelt wie unsereiner Käfer oder Briefmarken: er ist der treueste, hingebend rücksichtsvollste Gastgeber, so bald einer einmal in sein Haus aufgenommen ist und den Dunstkreis seiner Menschengefühle überhaupt be¬ rührt hat.
Warum aber zu metaphysischen Ungeheuerlichkeiten der Hypothese greifen? Warum soll nicht jener "göttliche Kern", jener "inkommensurable Teil" eben gerade das sein, was als Erbe von der alten Zusammengehörigkeit mit dem Hauptstamme der Menscheit auch in diesen abgezweigten Ästen unversehrt noch erhalten, wenn auch nicht fortentwickelt ist? Warum sollen gerade diese Eigenschaften nicht summiert einst gewesen sein in jenem echten Ur-Stamm als das, was ihn allmählich über das bestiale Tier erhob, was ihn eben allmählich zum Menschen werden ließ? Alle Anfänge dazu liegen zerstreut schon im Tier. Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der Urmensch zu sein. Immer ist das Große, das scheinbar vom Himmel Fallende solch ein Sammelpunkt gewesen. So hat Goethe nur millionenfach verstreute Ansätze seiner Zeit, seiner Menschheit zusammengefaßt in einen Brennpunkt, der dann allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging.
Wenn der Urmensch bloß bestialischer noch als der Gorilla war, -- wie ist er dann Mensch geworden? Ich denke mir das meiste des Guten, das der Wilde heute besitzt, das Beste was das Tier schon gab und vielleicht noch ein Teil mehr, (weil er doch eben der Kulturmensch geworden ist) in dem wirklichen Urmenschen vereint. Wertvoll ist ja da, daß es
ornamente. Das auſtraliſche Ehepaar, das nach Stammes¬ brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der geringfügigſten Bequemlichkeitsrückſicht für ſelbſtverſtändlich hält, liebt das erwachſende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des humanſten Kulturmenſchen und beweint ſeinen natürlichen Tod in den ergreifendſten Gemütslauten. Der Dajak auf Borneo, der auf die „Kopfjagd“ geht und abgeſchlagene Köpfe beliebiger ihm begegnender Menſchen ſammelt wie unſereiner Käfer oder Briefmarken: er iſt der treueſte, hingebend rückſichtsvollſte Gaſtgeber, ſo bald einer einmal in ſein Haus aufgenommen iſt und den Dunſtkreis ſeiner Menſchengefühle überhaupt be¬ rührt hat.
Warum aber zu metaphyſiſchen Ungeheuerlichkeiten der Hypotheſe greifen? Warum ſoll nicht jener „göttliche Kern“, jener „inkommenſurable Teil“ eben gerade das ſein, was als Erbe von der alten Zuſammengehörigkeit mit dem Hauptſtamme der Menſcheit auch in dieſen abgezweigten Äſten unverſehrt noch erhalten, wenn auch nicht fortentwickelt iſt? Warum ſollen gerade dieſe Eigenſchaften nicht ſummiert einſt geweſen ſein in jenem echten Ur-Stamm als das, was ihn allmählich über das beſtiale Tier erhob, was ihn eben allmählich zum Menſchen werden ließ? Alle Anfänge dazu liegen zerſtreut ſchon im Tier. Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der Urmenſch zu ſein. Immer iſt das Große, das ſcheinbar vom Himmel Fallende ſolch ein Sammelpunkt geweſen. So hat Goethe nur millionenfach verſtreute Anſätze ſeiner Zeit, ſeiner Menſchheit zuſammengefaßt in einen Brennpunkt, der dann allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging.
Wenn der Urmenſch bloß beſtialiſcher noch als der Gorilla war, — wie iſt er dann Menſch geworden? Ich denke mir das meiſte des Guten, das der Wilde heute beſitzt, das Beſte was das Tier ſchon gab und vielleicht noch ein Teil mehr, (weil er doch eben der Kulturmenſch geworden iſt) in dem wirklichen Urmenſchen vereint. Wertvoll iſt ja da, daß es
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0099"n="85"/>
ornamente. Das auſtraliſche Ehepaar, das nach Stammes¬<lb/>
brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der<lb/>
geringfügigſten Bequemlichkeitsrückſicht für ſelbſtverſtändlich hält,<lb/>
liebt das erwachſende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des<lb/>
humanſten Kulturmenſchen und beweint ſeinen natürlichen Tod<lb/>
in den ergreifendſten Gemütslauten. Der Dajak auf Borneo,<lb/>
der auf die „Kopfjagd“ geht und abgeſchlagene Köpfe beliebiger<lb/>
ihm begegnender Menſchen ſammelt wie unſereiner Käfer oder<lb/>
Briefmarken: er iſt der treueſte, hingebend rückſichtsvollſte<lb/>
Gaſtgeber, ſo bald einer einmal in ſein Haus aufgenommen<lb/>
iſt und den Dunſtkreis ſeiner Menſchengefühle überhaupt be¬<lb/>
rührt hat.</p><lb/><p>Warum aber zu metaphyſiſchen Ungeheuerlichkeiten der<lb/>
Hypotheſe greifen? Warum ſoll nicht jener „göttliche Kern“,<lb/>
jener „inkommenſurable Teil“ eben gerade das ſein, was als<lb/>
Erbe von der alten Zuſammengehörigkeit mit dem Hauptſtamme<lb/>
der Menſcheit auch in dieſen abgezweigten Äſten unverſehrt<lb/>
noch erhalten, wenn auch nicht fortentwickelt iſt? Warum<lb/>ſollen gerade dieſe Eigenſchaften nicht ſummiert einſt geweſen<lb/>ſein in jenem echten Ur-Stamm als das, was ihn allmählich<lb/>
über das beſtiale Tier erhob, was ihn eben allmählich zum<lb/>
Menſchen werden ließ? Alle Anfänge dazu liegen zerſtreut<lb/>ſchon im Tier. Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der<lb/>
Urmenſch zu ſein. Immer iſt das Große, das ſcheinbar vom<lb/>
Himmel Fallende ſolch ein Sammelpunkt geweſen. So hat<lb/>
Goethe nur millionenfach verſtreute Anſätze ſeiner Zeit, ſeiner<lb/>
Menſchheit zuſammengefaßt in einen Brennpunkt, der dann<lb/>
allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging.</p><lb/><p>Wenn der Urmenſch bloß beſtialiſcher noch als der Gorilla<lb/>
war, — wie iſt er dann Menſch geworden? Ich denke mir das<lb/>
meiſte des Guten, das der Wilde heute beſitzt, das Beſte<lb/>
was das Tier ſchon gab und vielleicht noch ein Teil mehr,<lb/>
(weil er doch eben der Kulturmenſch geworden iſt) in dem<lb/>
wirklichen Urmenſchen vereint. Wertvoll iſt ja da, daß es<lb/></p></div></body></text></TEI>
[85/0099]
ornamente. Das auſtraliſche Ehepaar, das nach Stammes¬
brauch das Umbringen eines neugeborenen Kindes aus der
geringfügigſten Bequemlichkeitsrückſicht für ſelbſtverſtändlich hält,
liebt das erwachſende Kind mit der vollen Zärtlichkeit des
humanſten Kulturmenſchen und beweint ſeinen natürlichen Tod
in den ergreifendſten Gemütslauten. Der Dajak auf Borneo,
der auf die „Kopfjagd“ geht und abgeſchlagene Köpfe beliebiger
ihm begegnender Menſchen ſammelt wie unſereiner Käfer oder
Briefmarken: er iſt der treueſte, hingebend rückſichtsvollſte
Gaſtgeber, ſo bald einer einmal in ſein Haus aufgenommen
iſt und den Dunſtkreis ſeiner Menſchengefühle überhaupt be¬
rührt hat.
Warum aber zu metaphyſiſchen Ungeheuerlichkeiten der
Hypotheſe greifen? Warum ſoll nicht jener „göttliche Kern“,
jener „inkommenſurable Teil“ eben gerade das ſein, was als
Erbe von der alten Zuſammengehörigkeit mit dem Hauptſtamme
der Menſcheit auch in dieſen abgezweigten Äſten unverſehrt
noch erhalten, wenn auch nicht fortentwickelt iſt? Warum
ſollen gerade dieſe Eigenſchaften nicht ſummiert einſt geweſen
ſein in jenem echten Ur-Stamm als das, was ihn allmählich
über das beſtiale Tier erhob, was ihn eben allmählich zum
Menſchen werden ließ? Alle Anfänge dazu liegen zerſtreut
ſchon im Tier. Nur ein glücklicher Sammelpunkt brauchte der
Urmenſch zu ſein. Immer iſt das Große, das ſcheinbar vom
Himmel Fallende ſolch ein Sammelpunkt geweſen. So hat
Goethe nur millionenfach verſtreute Anſätze ſeiner Zeit, ſeiner
Menſchheit zuſammengefaßt in einen Brennpunkt, der dann
allerdings wie eine neue Sonne über der ganzen Erde aufging.
Wenn der Urmenſch bloß beſtialiſcher noch als der Gorilla
war, — wie iſt er dann Menſch geworden? Ich denke mir das
meiſte des Guten, das der Wilde heute beſitzt, das Beſte
was das Tier ſchon gab und vielleicht noch ein Teil mehr,
(weil er doch eben der Kulturmenſch geworden iſt) in dem
wirklichen Urmenſchen vereint. Wertvoll iſt ja da, daß es
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/99>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.