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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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geheure Thatsache für das ebenfalls hier dämmernde Liebes¬
leben des Kulturmenschen. Was aber das Liebesleben berührt,
das rührt immer an die Fundamente, die "Mütter" im
Faustischen Sinne der Dinge.

Das Nacktwerden des Menschen war anscheinend eine
rein körperliche Sache. Als die letzte große Körperwandlung
des Menschen habe ich es oben bezeichnet, -- wobei ich dahin
gestellt sein lasse, wie weit die körperliche Umbildung, die
mit der Ausgestaltung der Sprache zusammenhing, vorauslief
oder parallel ging. Aber wir haben schon gesehen, daß ein
vergeistigtes Motiv der individuellen Liebeswahl -- die Aus¬
lese des Wohlgefälligeren -- dabei mithalf. Und der nächste
Schritt schon in der Rolle dieser Körpernacktheit im Liebesleben
der Menschheit führt mit endgültiger Wucht in diese geistigen
Mächte.

Der Mensch war schließlich nackt geworden, weil der
unbekleidete Mensch auch der erotische Mensch war.

Eines Tages bekleidet, verhüllt der Kulturmensch seine
Nacktheit nicht mehr bloß aus Gründen der Kälte, sondern
weil ihm der nackte Mensch der erotische ist.

Am Meilenstein dieser Sätze beginnt das zweite Kapitel
im Liebesleben des Menschen. Die Geschichte nicht mehr der
Nacktheit selber, sondern der geistigen Empfindung der Scham.

Sie hat am Menschen körperlich nichts mehr verändert
im Umrißbilde. Aber sie hat die stärkste Rolle gespielt in das
ganze Werkzeuggebiet der Kleidung hinein. Und sie hat seelisch
eine solche Gewalt an sich gerissen, daß das gesamte Liebes¬
leben des höheren Menschen davon beherrscht wird. Erst vor
dieser Scham trennt sich das Liebesleben des Menschen end¬
gültig und individuell von dem der übrigen Tiere.

Nackte Tiere giebt es auch unterhalb des Menschen. Es
giebt selbst Tiere, die sich zu Verteidigungszwecken in einen
kleiderartigen künstlichen Panzer hüllen. Die häßliche Larve
eines Insekts, der sogenannten Köcherfliege, baut sich in unsern

geheure Thatſache für das ebenfalls hier dämmernde Liebes¬
leben des Kulturmenſchen. Was aber das Liebesleben berührt,
das rührt immer an die Fundamente, die „Mütter“ im
Fauſtiſchen Sinne der Dinge.

Das Nacktwerden des Menſchen war anſcheinend eine
rein körperliche Sache. Als die letzte große Körperwandlung
des Menſchen habe ich es oben bezeichnet, — wobei ich dahin
geſtellt ſein laſſe, wie weit die körperliche Umbildung, die
mit der Ausgeſtaltung der Sprache zuſammenhing, vorauslief
oder parallel ging. Aber wir haben ſchon geſehen, daß ein
vergeiſtigtes Motiv der individuellen Liebeswahl — die Aus¬
leſe des Wohlgefälligeren — dabei mithalf. Und der nächſte
Schritt ſchon in der Rolle dieſer Körpernacktheit im Liebesleben
der Menſchheit führt mit endgültiger Wucht in dieſe geiſtigen
Mächte.

Der Menſch war ſchließlich nackt geworden, weil der
unbekleidete Menſch auch der erotiſche Menſch war.

Eines Tages bekleidet, verhüllt der Kulturmenſch ſeine
Nacktheit nicht mehr bloß aus Gründen der Kälte, ſondern
weil ihm der nackte Menſch der erotiſche iſt.

Am Meilenſtein dieſer Sätze beginnt das zweite Kapitel
im Liebesleben des Menſchen. Die Geſchichte nicht mehr der
Nacktheit ſelber, ſondern der geiſtigen Empfindung der Scham.

Sie hat am Menſchen körperlich nichts mehr verändert
im Umrißbilde. Aber ſie hat die ſtärkſte Rolle geſpielt in das
ganze Werkzeuggebiet der Kleidung hinein. Und ſie hat ſeeliſch
eine ſolche Gewalt an ſich geriſſen, daß das geſamte Liebes¬
leben des höheren Menſchen davon beherrſcht wird. Erſt vor
dieſer Scham trennt ſich das Liebesleben des Menſchen end¬
gültig und individuell von dem der übrigen Tiere.

Nackte Tiere giebt es auch unterhalb des Menſchen. Es
giebt ſelbſt Tiere, die ſich zu Verteidigungszwecken in einen
kleiderartigen künſtlichen Panzer hüllen. Die häßliche Larve
eines Inſekts, der ſogenannten Köcherfliege, baut ſich in unſern

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[88/0102] geheure Thatſache für das ebenfalls hier dämmernde Liebes¬ leben des Kulturmenſchen. Was aber das Liebesleben berührt, das rührt immer an die Fundamente, die „Mütter“ im Fauſtiſchen Sinne der Dinge. Das Nacktwerden des Menſchen war anſcheinend eine rein körperliche Sache. Als die letzte große Körperwandlung des Menſchen habe ich es oben bezeichnet, — wobei ich dahin geſtellt ſein laſſe, wie weit die körperliche Umbildung, die mit der Ausgeſtaltung der Sprache zuſammenhing, vorauslief oder parallel ging. Aber wir haben ſchon geſehen, daß ein vergeiſtigtes Motiv der individuellen Liebeswahl — die Aus¬ leſe des Wohlgefälligeren — dabei mithalf. Und der nächſte Schritt ſchon in der Rolle dieſer Körpernacktheit im Liebesleben der Menſchheit führt mit endgültiger Wucht in dieſe geiſtigen Mächte. Der Menſch war ſchließlich nackt geworden, weil der unbekleidete Menſch auch der erotiſche Menſch war. Eines Tages bekleidet, verhüllt der Kulturmenſch ſeine Nacktheit nicht mehr bloß aus Gründen der Kälte, ſondern weil ihm der nackte Menſch der erotiſche iſt. Am Meilenſtein dieſer Sätze beginnt das zweite Kapitel im Liebesleben des Menſchen. Die Geſchichte nicht mehr der Nacktheit ſelber, ſondern der geiſtigen Empfindung der Scham. Sie hat am Menſchen körperlich nichts mehr verändert im Umrißbilde. Aber ſie hat die ſtärkſte Rolle geſpielt in das ganze Werkzeuggebiet der Kleidung hinein. Und ſie hat ſeeliſch eine ſolche Gewalt an ſich geriſſen, daß das geſamte Liebes¬ leben des höheren Menſchen davon beherrſcht wird. Erſt vor dieſer Scham trennt ſich das Liebesleben des Menſchen end¬ gültig und individuell von dem der übrigen Tiere. Nackte Tiere giebt es auch unterhalb des Menſchen. Es giebt ſelbſt Tiere, die ſich zu Verteidigungszwecken in einen kleiderartigen künſtlichen Panzer hüllen. Die häßliche Larve eines Inſekts, der ſogenannten Köcherfliege, baut ſich in unſern

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/102>, abgerufen am 21.11.2024.