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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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bloß ein einfaches Erschrecken, so würde das Gesicht blaß werden
statt rot. Scham ist ein viel aktiverer seelischer Vorgang als
Angst, -- es ist ein Angriff schon darin, ein Urteil, eine
Kritik, und so hat sie mit Recht in der Blutsprache des menschlichen
Antlitzes das Vorzeichen Plus, das ist "Rot", erhalten. Keines¬
wegs aber wieder ist Rot etwa die echte aktive Farbe des
Erotischen selbst. Wo die reife Liebe freiwillig gewährt, wo,
um mit Salomo zu sprechen, das Erotische wirklich "seine Zeit
hat" da ist wohl das Antlitz zu höchster Lebenskraft gespannt,
die Augen blitzen oder sinken in der Tiefe des Gefühls auch
in jenes wunderbare blaue Verschwimmen wie die Sonne in
weiche feuchte Nebel ein, -- aber nichts mahnt an die düstere
Pupurflamme, die allemal da auflodert, wo die Scham protestiert.

Der Eskimo ist draußen bekleidet, daheim nackt. Nun
wandere mit dem Blick vom Pol herab den Globus entlang in
die heißen Länder, -- dorthin, wo die abgeströmten Menschen
erst ganz nackt, nackt in allen Lebenslagen geworden sind. Wie
wichtig mußte hier erst jene Zeichensprache werden, die den
Konflikt vermied! Und wie einfach stimmen die allbekannten
Thatsachen dazu, -- diese ewig neu bestaunten Thatsachen.

Wie haben sich die Deuter die Zähne daran zerbissen.
Der Wilde konnte keine Scham haben, weil er nackt war.
Aber dann hatte er sie plötzlich doch, -- vor unberechenbar
winzigsten Bagatellen. Auf den Admiralitätsinseln gehen die
Männer völlig nackt mit Ausnahme einer Gürtelschnur, an
der eine kleine Muschel so befestigt ist, daß sie die Vorhaut
deckt. Ein Reisender kauft einem Manne eine solche Muschel
ab und der Verkäufer wendet sich beiseite, als er sie los¬
machen soll: -- er müßte sich schämen, sollte er sich einen
Moment ohne sein Signal sehen lassen. Was soll das? fragt
sich der Europäer. Diese Sorte "Scham" erscheint wie ein
schlechter Witz. Und doch sind bei ihr sämtliche Urbedingungen
dessen, was wir selber Scham nennen, wie im feinsten, ver¬
klärtesten Extrakt gegeben.

bloß ein einfaches Erſchrecken, ſo würde das Geſicht blaß werden
ſtatt rot. Scham iſt ein viel aktiverer ſeeliſcher Vorgang als
Angſt, — es iſt ein Angriff ſchon darin, ein Urteil, eine
Kritik, und ſo hat ſie mit Recht in der Blutſprache des menſchlichen
Antlitzes das Vorzeichen Plus, das iſt „Rot“, erhalten. Keines¬
wegs aber wieder iſt Rot etwa die echte aktive Farbe des
Erotiſchen ſelbſt. Wo die reife Liebe freiwillig gewährt, wo,
um mit Salomo zu ſprechen, das Erotiſche wirklich „ſeine Zeit
hat“ da iſt wohl das Antlitz zu höchſter Lebenskraft geſpannt,
die Augen blitzen oder ſinken in der Tiefe des Gefühls auch
in jenes wunderbare blaue Verſchwimmen wie die Sonne in
weiche feuchte Nebel ein, — aber nichts mahnt an die düſtere
Pupurflamme, die allemal da auflodert, wo die Scham proteſtiert.

Der Eskimo iſt draußen bekleidet, daheim nackt. Nun
wandere mit dem Blick vom Pol herab den Globus entlang in
die heißen Länder, — dorthin, wo die abgeſtrömten Menſchen
erſt ganz nackt, nackt in allen Lebenslagen geworden ſind. Wie
wichtig mußte hier erſt jene Zeichenſprache werden, die den
Konflikt vermied! Und wie einfach ſtimmen die allbekannten
Thatſachen dazu, — dieſe ewig neu beſtaunten Thatſachen.

Wie haben ſich die Deuter die Zähne daran zerbiſſen.
Der Wilde konnte keine Scham haben, weil er nackt war.
Aber dann hatte er ſie plötzlich doch, — vor unberechenbar
winzigſten Bagatellen. Auf den Admiralitätsinſeln gehen die
Männer völlig nackt mit Ausnahme einer Gürtelſchnur, an
der eine kleine Muſchel ſo befeſtigt iſt, daß ſie die Vorhaut
deckt. Ein Reiſender kauft einem Manne eine ſolche Muſchel
ab und der Verkäufer wendet ſich beiſeite, als er ſie los¬
machen ſoll: — er müßte ſich ſchämen, ſollte er ſich einen
Moment ohne ſein Signal ſehen laſſen. Was ſoll das? fragt
ſich der Europäer. Dieſe Sorte „Scham“ erſcheint wie ein
ſchlechter Witz. Und doch ſind bei ihr ſämtliche Urbedingungen
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klärteſten Extrakt gegeben.

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[111/0125] bloß ein einfaches Erſchrecken, ſo würde das Geſicht blaß werden ſtatt rot. Scham iſt ein viel aktiverer ſeeliſcher Vorgang als Angſt, — es iſt ein Angriff ſchon darin, ein Urteil, eine Kritik, und ſo hat ſie mit Recht in der Blutſprache des menſchlichen Antlitzes das Vorzeichen Plus, das iſt „Rot“, erhalten. Keines¬ wegs aber wieder iſt Rot etwa die echte aktive Farbe des Erotiſchen ſelbſt. Wo die reife Liebe freiwillig gewährt, wo, um mit Salomo zu ſprechen, das Erotiſche wirklich „ſeine Zeit hat“ da iſt wohl das Antlitz zu höchſter Lebenskraft geſpannt, die Augen blitzen oder ſinken in der Tiefe des Gefühls auch in jenes wunderbare blaue Verſchwimmen wie die Sonne in weiche feuchte Nebel ein, — aber nichts mahnt an die düſtere Pupurflamme, die allemal da auflodert, wo die Scham proteſtiert. Der Eskimo iſt draußen bekleidet, daheim nackt. Nun wandere mit dem Blick vom Pol herab den Globus entlang in die heißen Länder, — dorthin, wo die abgeſtrömten Menſchen erſt ganz nackt, nackt in allen Lebenslagen geworden ſind. Wie wichtig mußte hier erſt jene Zeichenſprache werden, die den Konflikt vermied! Und wie einfach ſtimmen die allbekannten Thatſachen dazu, — dieſe ewig neu beſtaunten Thatſachen. Wie haben ſich die Deuter die Zähne daran zerbiſſen. Der Wilde konnte keine Scham haben, weil er nackt war. Aber dann hatte er ſie plötzlich doch, — vor unberechenbar winzigſten Bagatellen. Auf den Admiralitätsinſeln gehen die Männer völlig nackt mit Ausnahme einer Gürtelſchnur, an der eine kleine Muſchel ſo befeſtigt iſt, daß ſie die Vorhaut deckt. Ein Reiſender kauft einem Manne eine ſolche Muſchel ab und der Verkäufer wendet ſich beiſeite, als er ſie los¬ machen ſoll: — er müßte ſich ſchämen, ſollte er ſich einen Moment ohne ſein Signal ſehen laſſen. Was ſoll das? fragt ſich der Europäer. Dieſe Sorte „Scham“ erſcheint wie ein ſchlechter Witz. Und doch ſind bei ihr ſämtliche Urbedingungen deſſen, was wir ſelber Scham nennen, wie im feinſten, ver¬ klärteſten Extrakt gegeben.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/125>, abgerufen am 21.11.2024.