Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

Eine Erstarrung des Ganzen war er statt Steigerung, eine
Versteinerung des Gesamtintellekts, ein altjüngferlich unfrucht¬
barer Zug über der ganzen Arbeitsleistung, ein völliges Her¬
absinken des Individuums zum automatisch klappernden Organ
an Stelle des bei uns erhofften Triumphs des Individuums.

Das ist die Kehrseite eines weltgeschichtlichen Zuges. Von
ihr läßt sich die Brücke aber leicht finden zu dem, was ich
Dir als das Mißliche in dem ganzen Grundprinzip schon der
Nacktheitsscheu bezeichnet habe.

So lange der Kampf in der Kultur gegen das Nackte
dauert, haben auch zwei Prinzipien unerschüttert dagegen an¬
gefochten. Es waren die beiden uralten Faktoren, aus deren
Bund einst die Nacktheit entstanden ist. Der eine war das ero¬
tische Wahlbedürfnis und Lockbedürfnis der Jugend; der "Früh¬
ling" möchte ich geradezu sagen. Der andere war die Kunst.

Magst du alles, was zur Mischliebe gehört, vom Kuß an,
moralisch unter vier Augen verbannen: alles, was zur eigentlichen
erotischen Lockung gehört im Bereich der Distanceliebe ist und
bleibt ein öffentlicher Akt. Die Schönheit muß sich zuerst
irgendwie ausbieten, um gefunden zu werden. Mag die Moral
von ihrer Seite her den Mantel heraufziehen bis über die
Ohren: die Schönheit, die Jugend, der Frühling werden immer
wieder versuchen, um eine Lücke zu handeln, an der sie irgend
etwas sehen lassen können.

Hier liegt wieder der berechtigte Wunsch des Erotischen,
mindestens zu gewissen Lebenszeiten den ganzen Menschen zu
durchsetzen, also auch den öffentlich sichtbaren. Ein schönes
Mädchen behält seinen erotischen Charakter und wenn du auch
bloß eine halbe Locke und eine Fingerspitze von ihm siehst.
Eros der Herr will aber mit allen Kräften, daß man mehr
sehen soll. Jede lebendige junge Schönheit steht zur Konkurrenz
in der Welt aus und soll es. Denn auf der Schönheitswahl
zur Weiterleitung der Menschheit beruht ein tiefstes, stetig
emporarbeitendes Harmonieprinzip der Welt.

Eine Erſtarrung des Ganzen war er ſtatt Steigerung, eine
Verſteinerung des Geſamtintellekts, ein altjüngferlich unfrucht¬
barer Zug über der ganzen Arbeitsleiſtung, ein völliges Her¬
abſinken des Individuums zum automatiſch klappernden Organ
an Stelle des bei uns erhofften Triumphs des Individuums.

Das iſt die Kehrſeite eines weltgeſchichtlichen Zuges. Von
ihr läßt ſich die Brücke aber leicht finden zu dem, was ich
Dir als das Mißliche in dem ganzen Grundprinzip ſchon der
Nacktheitsſcheu bezeichnet habe.

So lange der Kampf in der Kultur gegen das Nackte
dauert, haben auch zwei Prinzipien unerſchüttert dagegen an¬
gefochten. Es waren die beiden uralten Faktoren, aus deren
Bund einſt die Nacktheit entſtanden iſt. Der eine war das ero¬
tiſche Wahlbedürfnis und Lockbedürfnis der Jugend; der „Früh¬
ling“ möchte ich geradezu ſagen. Der andere war die Kunſt.

Magſt du alles, was zur Miſchliebe gehört, vom Kuß an,
moraliſch unter vier Augen verbannen: alles, was zur eigentlichen
erotiſchen Lockung gehört im Bereich der Diſtanceliebe iſt und
bleibt ein öffentlicher Akt. Die Schönheit muß ſich zuerſt
irgendwie ausbieten, um gefunden zu werden. Mag die Moral
von ihrer Seite her den Mantel heraufziehen bis über die
Ohren: die Schönheit, die Jugend, der Frühling werden immer
wieder verſuchen, um eine Lücke zu handeln, an der ſie irgend
etwas ſehen laſſen können.

Hier liegt wieder der berechtigte Wunſch des Erotiſchen,
mindeſtens zu gewiſſen Lebenszeiten den ganzen Menſchen zu
durchſetzen, alſo auch den öffentlich ſichtbaren. Ein ſchönes
Mädchen behält ſeinen erotiſchen Charakter und wenn du auch
bloß eine halbe Locke und eine Fingerſpitze von ihm ſiehſt.
Eros der Herr will aber mit allen Kräften, daß man mehr
ſehen ſoll. Jede lebendige junge Schönheit ſteht zur Konkurrenz
in der Welt aus und ſoll es. Denn auf der Schönheitswahl
zur Weiterleitung der Menſchheit beruht ein tiefſtes, ſtetig
emporarbeitendes Harmonieprinzip der Welt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0148" n="134"/>
Eine Er&#x017F;tarrung des Ganzen war er &#x017F;tatt Steigerung, eine<lb/>
Ver&#x017F;teinerung des Ge&#x017F;amtintellekts, ein altjüngferlich unfrucht¬<lb/>
barer Zug über der ganzen Arbeitslei&#x017F;tung, ein völliges Her¬<lb/>
ab&#x017F;inken des Individuums zum automati&#x017F;ch klappernden Organ<lb/>
an Stelle des bei uns erhofften Triumphs des Individuums.</p><lb/>
        <p>Das i&#x017F;t die Kehr&#x017F;eite eines weltge&#x017F;chichtlichen Zuges. Von<lb/>
ihr läßt &#x017F;ich die Brücke aber leicht finden zu dem, was ich<lb/>
Dir als das Mißliche in dem ganzen Grundprinzip &#x017F;chon der<lb/>
Nacktheits&#x017F;cheu bezeichnet habe.</p><lb/>
        <p>So lange der Kampf in der Kultur gegen das Nackte<lb/>
dauert, haben auch zwei Prinzipien uner&#x017F;chüttert dagegen an¬<lb/>
gefochten. Es waren die beiden uralten Faktoren, aus deren<lb/>
Bund ein&#x017F;t die Nacktheit ent&#x017F;tanden i&#x017F;t. Der eine war das ero¬<lb/>
ti&#x017F;che Wahlbedürfnis und Lockbedürfnis der Jugend; der &#x201E;Früh¬<lb/>
ling&#x201C; möchte ich geradezu &#x017F;agen. Der andere war die Kun&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Mag&#x017F;t du alles, was zur Mi&#x017F;chliebe gehört, vom Kuß an,<lb/>
morali&#x017F;ch unter vier Augen verbannen: alles, was zur eigentlichen<lb/>
eroti&#x017F;chen Lockung gehört im Bereich der Di&#x017F;tanceliebe i&#x017F;t und<lb/>
bleibt ein öffentlicher Akt. Die Schönheit muß &#x017F;ich zuer&#x017F;t<lb/>
irgendwie ausbieten, um gefunden zu werden. Mag die Moral<lb/>
von ihrer Seite her den Mantel heraufziehen bis über die<lb/>
Ohren: die Schönheit, die Jugend, der Frühling werden immer<lb/>
wieder ver&#x017F;uchen, um eine Lücke zu handeln, an der &#x017F;ie irgend<lb/>
etwas &#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en können.</p><lb/>
        <p>Hier liegt wieder der <choice><sic>berechtige</sic><corr>berechtigte</corr></choice> Wun&#x017F;ch des Eroti&#x017F;chen,<lb/>
minde&#x017F;tens zu gewi&#x017F;&#x017F;en Lebenszeiten den ganzen Men&#x017F;chen zu<lb/>
durch&#x017F;etzen, al&#x017F;o auch den öffentlich &#x017F;ichtbaren. Ein &#x017F;chönes<lb/>
Mädchen behält &#x017F;einen eroti&#x017F;chen Charakter und wenn du auch<lb/>
bloß eine halbe Locke und eine Finger&#x017F;pitze von ihm &#x017F;ieh&#x017F;t.<lb/>
Eros der Herr will aber mit allen Kräften, daß man mehr<lb/>
&#x017F;ehen &#x017F;oll. Jede lebendige junge Schönheit &#x017F;teht zur Konkurrenz<lb/>
in der Welt aus und &#x017F;oll es. Denn auf der Schönheitswahl<lb/>
zur Weiterleitung der Men&#x017F;chheit beruht ein tief&#x017F;tes, &#x017F;tetig<lb/>
emporarbeitendes Harmonieprinzip der Welt.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0148] Eine Erſtarrung des Ganzen war er ſtatt Steigerung, eine Verſteinerung des Geſamtintellekts, ein altjüngferlich unfrucht¬ barer Zug über der ganzen Arbeitsleiſtung, ein völliges Her¬ abſinken des Individuums zum automatiſch klappernden Organ an Stelle des bei uns erhofften Triumphs des Individuums. Das iſt die Kehrſeite eines weltgeſchichtlichen Zuges. Von ihr läßt ſich die Brücke aber leicht finden zu dem, was ich Dir als das Mißliche in dem ganzen Grundprinzip ſchon der Nacktheitsſcheu bezeichnet habe. So lange der Kampf in der Kultur gegen das Nackte dauert, haben auch zwei Prinzipien unerſchüttert dagegen an¬ gefochten. Es waren die beiden uralten Faktoren, aus deren Bund einſt die Nacktheit entſtanden iſt. Der eine war das ero¬ tiſche Wahlbedürfnis und Lockbedürfnis der Jugend; der „Früh¬ ling“ möchte ich geradezu ſagen. Der andere war die Kunſt. Magſt du alles, was zur Miſchliebe gehört, vom Kuß an, moraliſch unter vier Augen verbannen: alles, was zur eigentlichen erotiſchen Lockung gehört im Bereich der Diſtanceliebe iſt und bleibt ein öffentlicher Akt. Die Schönheit muß ſich zuerſt irgendwie ausbieten, um gefunden zu werden. Mag die Moral von ihrer Seite her den Mantel heraufziehen bis über die Ohren: die Schönheit, die Jugend, der Frühling werden immer wieder verſuchen, um eine Lücke zu handeln, an der ſie irgend etwas ſehen laſſen können. Hier liegt wieder der berechtigte Wunſch des Erotiſchen, mindeſtens zu gewiſſen Lebenszeiten den ganzen Menſchen zu durchſetzen, alſo auch den öffentlich ſichtbaren. Ein ſchönes Mädchen behält ſeinen erotiſchen Charakter und wenn du auch bloß eine halbe Locke und eine Fingerſpitze von ihm ſiehſt. Eros der Herr will aber mit allen Kräften, daß man mehr ſehen ſoll. Jede lebendige junge Schönheit ſteht zur Konkurrenz in der Welt aus und ſoll es. Denn auf der Schönheitswahl zur Weiterleitung der Menſchheit beruht ein tiefſtes, ſtetig emporarbeitendes Harmonieprinzip der Welt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/148
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/148>, abgerufen am 24.11.2024.