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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Die menschlichen Richter sind selber unschlüssig: Stimmen¬
gleichheit. Da springt Athene für Orest und Apollo ein. Sie
bringt ein Entscheidendes, und zwar nochmals aus der Embryo¬
logie: die Parthenogenesis aus einem Manne ohne Mutter.

"Mein ist es, abzugeben einen letzten Spruch,
Und für Orestes leg ich diesen Stein hinein;
Denn keine Mutter wurde mir, die mich gebar,
Nein, vollen Herzens lob' ich alles Männliche."

Athene war bekanntlich in der Sage unmittelbar aus dem
Haupte des Vaters Zeus entsprungen. Von der wirklichen
Parthenogenesis etwa der Blattläuse oder der Bienen hatte die
Zeit des Äschylus natürlich noch keine Ahnung.

Aber die ganze Geschichte ist, meine ich, für die Haupt¬
sache von einer wirklich durchschlagenden Beweiskraft. Die
Ursache des "Mutterrechts" lag in einer bestimmten, älteren
Embryologie! Es kam mit ihr und fiel mit ihr, ganz unab¬
hängig von aller sonstigen Eheentwickelung.

In jenem Totemfalle gab es ja, wie gesagt, nur ein
Dilemma von zwei Möglichkeiten.

Entweder die Kinder der Totemehe übers Kreuz kamen
zum Vatertotem oder zum Muttertotem. Die Logik, die hier
für die Mutter entschied, war nun durchaus nicht Ergebnis
einer imaginären, amazonenhaften Herrscherrolle der Frau in
den Totems, sondern sie wurde einfach diktiert von der Vor¬
stellung, daß der Anteil der Mutter an der Erzeugung des
Kindes der entscheidende, der weit überwiegende sei.

Den wahren Vorgang bei der Zeugung, bei dem genau
eine Zelle des Mannes, belastet mit dem gesamten väterlichen
Erbe, sich mit einer mütterlich ebenso belasteten Zelle des Weibes
körperlich mischt, kennen wir ja heute erst dank der glücklichen,
mikroskopischen Arbeit des 19. Jahrhunderts. Alle frühere
Auffassung über den Anteil von Mann und Weib war Ver¬
mutung. Noch durch das ganze 18. Jahrhundert tobt der
heftigste Zwist zwischen den führenden Häuptern der exakten

Die menſchlichen Richter ſind ſelber unſchlüſſig: Stimmen¬
gleichheit. Da ſpringt Athene für Oreſt und Apollo ein. Sie
bringt ein Entſcheidendes, und zwar nochmals aus der Embryo¬
logie: die Parthenogeneſis aus einem Manne ohne Mutter.

„Mein iſt es, abzugeben einen letzten Spruch,
Und für Oreſtes leg ich dieſen Stein hinein;
Denn keine Mutter wurde mir, die mich gebar,
Nein, vollen Herzens lob' ich alles Männliche.“

Athene war bekanntlich in der Sage unmittelbar aus dem
Haupte des Vaters Zeus entſprungen. Von der wirklichen
Parthenogeneſis etwa der Blattläuſe oder der Bienen hatte die
Zeit des Äſchylus natürlich noch keine Ahnung.

Aber die ganze Geſchichte iſt, meine ich, für die Haupt¬
ſache von einer wirklich durchſchlagenden Beweiskraft. Die
Urſache des „Mutterrechts“ lag in einer beſtimmten, älteren
Embryologie! Es kam mit ihr und fiel mit ihr, ganz unab¬
hängig von aller ſonſtigen Eheentwickelung.

In jenem Totemfalle gab es ja, wie geſagt, nur ein
Dilemma von zwei Möglichkeiten.

Entweder die Kinder der Totemehe übers Kreuz kamen
zum Vatertotem oder zum Muttertotem. Die Logik, die hier
für die Mutter entſchied, war nun durchaus nicht Ergebnis
einer imaginären, amazonenhaften Herrſcherrolle der Frau in
den Totems, ſondern ſie wurde einfach diktiert von der Vor¬
ſtellung, daß der Anteil der Mutter an der Erzeugung des
Kindes der entſcheidende, der weit überwiegende ſei.

Den wahren Vorgang bei der Zeugung, bei dem genau
eine Zelle des Mannes, belaſtet mit dem geſamten väterlichen
Erbe, ſich mit einer mütterlich ebenſo belaſteten Zelle des Weibes
körperlich miſcht, kennen wir ja heute erſt dank der glücklichen,
mikroſkopiſchen Arbeit des 19. Jahrhunderts. Alle frühere
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[224/0238] Die menſchlichen Richter ſind ſelber unſchlüſſig: Stimmen¬ gleichheit. Da ſpringt Athene für Oreſt und Apollo ein. Sie bringt ein Entſcheidendes, und zwar nochmals aus der Embryo¬ logie: die Parthenogeneſis aus einem Manne ohne Mutter. „Mein iſt es, abzugeben einen letzten Spruch, Und für Oreſtes leg ich dieſen Stein hinein; Denn keine Mutter wurde mir, die mich gebar, Nein, vollen Herzens lob' ich alles Männliche.“ Athene war bekanntlich in der Sage unmittelbar aus dem Haupte des Vaters Zeus entſprungen. Von der wirklichen Parthenogeneſis etwa der Blattläuſe oder der Bienen hatte die Zeit des Äſchylus natürlich noch keine Ahnung. Aber die ganze Geſchichte iſt, meine ich, für die Haupt¬ ſache von einer wirklich durchſchlagenden Beweiskraft. Die Urſache des „Mutterrechts“ lag in einer beſtimmten, älteren Embryologie! Es kam mit ihr und fiel mit ihr, ganz unab¬ hängig von aller ſonſtigen Eheentwickelung. In jenem Totemfalle gab es ja, wie geſagt, nur ein Dilemma von zwei Möglichkeiten. Entweder die Kinder der Totemehe übers Kreuz kamen zum Vatertotem oder zum Muttertotem. Die Logik, die hier für die Mutter entſchied, war nun durchaus nicht Ergebnis einer imaginären, amazonenhaften Herrſcherrolle der Frau in den Totems, ſondern ſie wurde einfach diktiert von der Vor¬ ſtellung, daß der Anteil der Mutter an der Erzeugung des Kindes der entſcheidende, der weit überwiegende ſei. Den wahren Vorgang bei der Zeugung, bei dem genau eine Zelle des Mannes, belaſtet mit dem geſamten väterlichen Erbe, ſich mit einer mütterlich ebenſo belaſteten Zelle des Weibes körperlich miſcht, kennen wir ja heute erſt dank der glücklichen, mikroſkopiſchen Arbeit des 19. Jahrhunderts. Alle frühere Auffaſſung über den Anteil von Mann und Weib war Ver¬ mutung. Noch durch das ganze 18. Jahrhundert tobt der heftigſte Zwiſt zwiſchen den führenden Häuptern der exakten

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/238>, abgerufen am 25.05.2024.