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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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gehäuft haben, sintemal er solange nur die Krume verzehren
durfte. Zum Dank gehen sie aber mit ihm selber dabei um wie die
Satane. Mit dem spitzen Zahn des Aguti-Nagetiers ritzen sie
ihm die Haut am ganzen Leib, als solle er lebendig geschunden
werden. Nach diesem kochen sie einen dicken Brei aus 60 bis
80 Körnern spanischen Pfeffers von der stärksten Sorte,
der wird dem Marsyas als Pflaster auf seine Wunden gelegt.
Lebendigverbranntwerden auf wirklichem Rost soll nichts da¬
gegen sein. Aber das Opfer darf keinen Laut von sich geben,
sonst ist der Vater der Ehre nicht würdig. Erst wenn er sich
in Blut und Pfeffer wälzt, gilt das Kind als abverdient und
man überläßt ihn wieder seiner Diät in der Hängematte, die
noch weitere Monate dauern muß, während die liebe Verwandt¬
schaft, Mann, Weib und eigene Ehefrau, sich auf seine Kosten
zu einem großen Kindbettfest mit üppiger Schlemmertafel
zusammensetzt.

Die anscheinend unübertreffliche Verrücktheit dieser Sitte
läßt zunächst vermuten, sie möchte doch wohl nur eine Art
lokaler Geistesverirrung in einem kleinen Narrenwinkel der
Menschheit sein. Aber dieser Winkel ist nahezu das ganze
Südamerika. Dann belehrt dich der alte Marko Polo, daß
genau die gleiche Geschichte schon vor 600 Jahren in China
gang und gäbe war, und dort blüht sie in dem Gebirgsvolk
der Miau-tße heute noch. In Afrika ist sie wenigstens in
früheren Zeiten noch bei Kongo-Negern angetroffen worden.
Die antike Notizweisheit bei Diodor und Strabo bringt sie
dir dann gar dicht an den Pforten unsrer Kultur geschichtlich
in Sicht: nach Diodor gab es ein Männerkindbett im Mufflon-
Lande, auf Korsika. Der zuverlässige Strabo aber hat es bei
den Iberern in Spanien gefunden. Und es setzt dem Ganzen
die Krone auf, daß in einem spanisch-französischen Grenz¬
winkel, bei den noch fortvegetierenden Resten der alten Basken
im Pyrenäengebiet, die Sitte denn glücklich auch thatsächlich
noch inmitten der heutigen Kultur, bei bekleideten, modern

gehäuft haben, ſintemal er ſolange nur die Krume verzehren
durfte. Zum Dank gehen ſie aber mit ihm ſelber dabei um wie die
Satane. Mit dem ſpitzen Zahn des Aguti-Nagetiers ritzen ſie
ihm die Haut am ganzen Leib, als ſolle er lebendig geſchunden
werden. Nach dieſem kochen ſie einen dicken Brei aus 60 bis
80 Körnern ſpaniſchen Pfeffers von der ſtärkſten Sorte,
der wird dem Marſyas als Pflaſter auf ſeine Wunden gelegt.
Lebendigverbranntwerden auf wirklichem Roſt ſoll nichts da¬
gegen ſein. Aber das Opfer darf keinen Laut von ſich geben,
ſonſt iſt der Vater der Ehre nicht würdig. Erſt wenn er ſich
in Blut und Pfeffer wälzt, gilt das Kind als abverdient und
man überläßt ihn wieder ſeiner Diät in der Hängematte, die
noch weitere Monate dauern muß, während die liebe Verwandt¬
ſchaft, Mann, Weib und eigene Ehefrau, ſich auf ſeine Koſten
zu einem großen Kindbettfeſt mit üppiger Schlemmertafel
zuſammenſetzt.

Die anſcheinend unübertreffliche Verrücktheit dieſer Sitte
läßt zunächſt vermuten, ſie möchte doch wohl nur eine Art
lokaler Geiſtesverirrung in einem kleinen Narrenwinkel der
Menſchheit ſein. Aber dieſer Winkel iſt nahezu das ganze
Südamerika. Dann belehrt dich der alte Marko Polo, daß
genau die gleiche Geſchichte ſchon vor 600 Jahren in China
gang und gäbe war, und dort blüht ſie in dem Gebirgsvolk
der Miau-tße heute noch. In Afrika iſt ſie wenigſtens in
früheren Zeiten noch bei Kongo-Negern angetroffen worden.
Die antike Notizweisheit bei Diodor und Strabo bringt ſie
dir dann gar dicht an den Pforten unſrer Kultur geſchichtlich
in Sicht: nach Diodor gab es ein Männerkindbett im Mufflon-
Lande, auf Korſika. Der zuverläſſige Strabo aber hat es bei
den Iberern in Spanien gefunden. Und es ſetzt dem Ganzen
die Krone auf, daß in einem ſpaniſch-franzöſiſchen Grenz¬
winkel, bei den noch fortvegetierenden Reſten der alten Basken
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[236/0250] gehäuft haben, ſintemal er ſolange nur die Krume verzehren durfte. Zum Dank gehen ſie aber mit ihm ſelber dabei um wie die Satane. Mit dem ſpitzen Zahn des Aguti-Nagetiers ritzen ſie ihm die Haut am ganzen Leib, als ſolle er lebendig geſchunden werden. Nach dieſem kochen ſie einen dicken Brei aus 60 bis 80 Körnern ſpaniſchen Pfeffers von der ſtärkſten Sorte, der wird dem Marſyas als Pflaſter auf ſeine Wunden gelegt. Lebendigverbranntwerden auf wirklichem Roſt ſoll nichts da¬ gegen ſein. Aber das Opfer darf keinen Laut von ſich geben, ſonſt iſt der Vater der Ehre nicht würdig. Erſt wenn er ſich in Blut und Pfeffer wälzt, gilt das Kind als abverdient und man überläßt ihn wieder ſeiner Diät in der Hängematte, die noch weitere Monate dauern muß, während die liebe Verwandt¬ ſchaft, Mann, Weib und eigene Ehefrau, ſich auf ſeine Koſten zu einem großen Kindbettfeſt mit üppiger Schlemmertafel zuſammenſetzt. Die anſcheinend unübertreffliche Verrücktheit dieſer Sitte läßt zunächſt vermuten, ſie möchte doch wohl nur eine Art lokaler Geiſtesverirrung in einem kleinen Narrenwinkel der Menſchheit ſein. Aber dieſer Winkel iſt nahezu das ganze Südamerika. Dann belehrt dich der alte Marko Polo, daß genau die gleiche Geſchichte ſchon vor 600 Jahren in China gang und gäbe war, und dort blüht ſie in dem Gebirgsvolk der Miau-tße heute noch. In Afrika iſt ſie wenigſtens in früheren Zeiten noch bei Kongo-Negern angetroffen worden. Die antike Notizweisheit bei Diodor und Strabo bringt ſie dir dann gar dicht an den Pforten unſrer Kultur geſchichtlich in Sicht: nach Diodor gab es ein Männerkindbett im Mufflon- Lande, auf Korſika. Der zuverläſſige Strabo aber hat es bei den Iberern in Spanien gefunden. Und es ſetzt dem Ganzen die Krone auf, daß in einem ſpaniſch-franzöſiſchen Grenz¬ winkel, bei den noch fortvegetierenden Reſten der alten Basken im Pyrenäengebiet, die Sitte denn glücklich auch thatſächlich noch inmitten der heutigen Kultur, bei bekleideten, modern

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/250>, abgerufen am 22.11.2024.