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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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sonstigen Parteiecke: er wird, seltsam genug, aber wahr, die
gleiche Erfahrung gemacht haben. Es gilt, die Dummen nicht
mit Autorität zu unterdrücken, sondern sie wirtschaften zu lassen;
an sich selbst müssen sie sich erleben, ihre Dummheit. Wahr
bleibt, daß damit manches Unheil angerichtet wird gegen An¬
dere, Unschuldige, und grausam ist's, als Sehender Blinde ins
Verderben rennen zu lassen. Aber man kommt schließlich auch
zum Schluß, daß es nicht anders geht, wenn das Ganze vor¬
wärts soll, auch in den einzelnen Dummen selber soll; es ist ihre
einzige Rettung, am eigenen Kreuz endlich klug zu werden, --
wobei freilich zum vollen Trost noch etwas tiefere Gedanken
über Individualität und ihre Schicksalserziehung gehörten.

Genug: auch in unserer Linie hat sich viel ausgewirt¬
schaftet, aber auch abgewirtschaftet. Aus dem Flötenhaus¬
mädchen, dessen Kinder der Stamm übernahm, ist die Prosti¬
tuierte erwachsen, die im Artbilde des Menschentiers wieder
etwas darstellt wie eine geschlechtsverkümmerte Ameise. Die
Idee des Kindes ist bei ihr ausgeschaltet. Die Ehe ist in
jeder Form mit gefallen. Damit ist aber auch die Liebeswahl
als solche illusorisch geworden, das ganze individuelle Wahl¬
prinzip ist schließlich ebenfalls ausgeschaltet: es steht der Prosti¬
tuierten nichts im Wege, mit jedem Manne zu verkehren, wenn
es nur sonst irgend einen kleinen Vorteil bringt. Bei diesem
kleinen Vorteil setzte aber eine Linie ein, die wieder Soziales
und Wirtschaftliches auf einem neuen Wege berührte. Die Prosti¬
tuierte versucht, in eine Schutzgemeinschaft mit allen Männern zu
treten, heischt von jedem eine kleine Unterstützung: sie versucht,
sich als einen Gesellschaftsbesitz wieder ins Soziale einzuordnen.

So weit läßt sich die Linie wirklich ganz hübsch durch¬
ziehen und es ist in der Menschheitsentwickelung thatsächlich
immerfort versucht worden, sie zu ziehen und logisch zu halten.
Die Züchtung dieser sterilen Amüsements-Ameise, die das Recht
hatte, eine Art sozialer Steuer in jedem Gebrauchsfalle zu er¬
heben, schien so und so oft geradezu gelungen bis auf eine

ſonſtigen Parteiecke: er wird, ſeltſam genug, aber wahr, die
gleiche Erfahrung gemacht haben. Es gilt, die Dummen nicht
mit Autorität zu unterdrücken, ſondern ſie wirtſchaften zu laſſen;
an ſich ſelbſt müſſen ſie ſich erleben, ihre Dummheit. Wahr
bleibt, daß damit manches Unheil angerichtet wird gegen An¬
dere, Unſchuldige, und grauſam iſt's, als Sehender Blinde ins
Verderben rennen zu laſſen. Aber man kommt ſchließlich auch
zum Schluß, daß es nicht anders geht, wenn das Ganze vor¬
wärts ſoll, auch in den einzelnen Dummen ſelber ſoll; es iſt ihre
einzige Rettung, am eigenen Kreuz endlich klug zu werden, —
wobei freilich zum vollen Troſt noch etwas tiefere Gedanken
über Individualität und ihre Schickſalserziehung gehörten.

Genug: auch in unſerer Linie hat ſich viel ausgewirt¬
ſchaftet, aber auch abgewirtſchaftet. Aus dem Flötenhaus¬
mädchen, deſſen Kinder der Stamm übernahm, iſt die Proſti¬
tuierte erwachſen, die im Artbilde des Menſchentiers wieder
etwas darſtellt wie eine geſchlechtsverkümmerte Ameiſe. Die
Idee des Kindes iſt bei ihr ausgeſchaltet. Die Ehe iſt in
jeder Form mit gefallen. Damit iſt aber auch die Liebeswahl
als ſolche illuſoriſch geworden, das ganze individuelle Wahl¬
prinzip iſt ſchließlich ebenfalls ausgeſchaltet: es ſteht der Proſti¬
tuierten nichts im Wege, mit jedem Manne zu verkehren, wenn
es nur ſonſt irgend einen kleinen Vorteil bringt. Bei dieſem
kleinen Vorteil ſetzte aber eine Linie ein, die wieder Soziales
und Wirtſchaftliches auf einem neuen Wege berührte. Die Proſti¬
tuierte verſucht, in eine Schutzgemeinſchaft mit allen Männern zu
treten, heiſcht von jedem eine kleine Unterſtützung: ſie verſucht,
ſich als einen Geſellſchaftsbeſitz wieder ins Soziale einzuordnen.

So weit läßt ſich die Linie wirklich ganz hübſch durch¬
ziehen und es iſt in der Menſchheitsentwickelung thatſächlich
immerfort verſucht worden, ſie zu ziehen und logiſch zu halten.
Die Züchtung dieſer ſterilen Amüſements-Ameiſe, die das Recht
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[260/0274] ſonſtigen Parteiecke: er wird, ſeltſam genug, aber wahr, die gleiche Erfahrung gemacht haben. Es gilt, die Dummen nicht mit Autorität zu unterdrücken, ſondern ſie wirtſchaften zu laſſen; an ſich ſelbſt müſſen ſie ſich erleben, ihre Dummheit. Wahr bleibt, daß damit manches Unheil angerichtet wird gegen An¬ dere, Unſchuldige, und grauſam iſt's, als Sehender Blinde ins Verderben rennen zu laſſen. Aber man kommt ſchließlich auch zum Schluß, daß es nicht anders geht, wenn das Ganze vor¬ wärts ſoll, auch in den einzelnen Dummen ſelber ſoll; es iſt ihre einzige Rettung, am eigenen Kreuz endlich klug zu werden, — wobei freilich zum vollen Troſt noch etwas tiefere Gedanken über Individualität und ihre Schickſalserziehung gehörten. Genug: auch in unſerer Linie hat ſich viel ausgewirt¬ ſchaftet, aber auch abgewirtſchaftet. Aus dem Flötenhaus¬ mädchen, deſſen Kinder der Stamm übernahm, iſt die Proſti¬ tuierte erwachſen, die im Artbilde des Menſchentiers wieder etwas darſtellt wie eine geſchlechtsverkümmerte Ameiſe. Die Idee des Kindes iſt bei ihr ausgeſchaltet. Die Ehe iſt in jeder Form mit gefallen. Damit iſt aber auch die Liebeswahl als ſolche illuſoriſch geworden, das ganze individuelle Wahl¬ prinzip iſt ſchließlich ebenfalls ausgeſchaltet: es ſteht der Proſti¬ tuierten nichts im Wege, mit jedem Manne zu verkehren, wenn es nur ſonſt irgend einen kleinen Vorteil bringt. Bei dieſem kleinen Vorteil ſetzte aber eine Linie ein, die wieder Soziales und Wirtſchaftliches auf einem neuen Wege berührte. Die Proſti¬ tuierte verſucht, in eine Schutzgemeinſchaft mit allen Männern zu treten, heiſcht von jedem eine kleine Unterſtützung: ſie verſucht, ſich als einen Geſellſchaftsbeſitz wieder ins Soziale einzuordnen. So weit läßt ſich die Linie wirklich ganz hübſch durch¬ ziehen und es iſt in der Menſchheitsentwickelung thatſächlich immerfort verſucht worden, ſie zu ziehen und logiſch zu halten. Die Züchtung dieſer ſterilen Amüſements-Ameiſe, die das Recht hatte, eine Art ſozialer Steuer in jedem Gebrauchsfalle zu er¬ heben, ſchien ſo und ſo oft geradezu gelungen bis auf eine

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/274>, abgerufen am 21.11.2024.