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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Wir sind uns einig, nicht wahr, daß niemals in der
Weltgeschichte eine "Moral" von einem übernatürlichen Himmel
heruntergeregnet ist. Auch in allen Moralanschauungen walten
die einfachen natürlichen Gesetze, die auch deine Arme und
Beine geschaffen haben. Jedem Moralgesetz liegt zu Grunde
das instinktive, ahnende Tasten nach einer Logik im positiven,
einer Unlogik im negativen Sinne. Je sicherer der Instinkt
ging, desto größer ist die weltgeschichtliche Kraft eines solchen
Moralgesetzes, -- wobei natürlich der Entwickelung freier
Raum bleibt; eine zeitliche Unlogik braucht nicht ewige Dauer
zu behalten und damit muß der logische Instinkt sich modeln
und in seiner Folge wieder die Moral sich ändern; im all¬
gemeinen aber ist die Geschichte der Menschheit in ihren paar
hellen Jahrtausenden noch so außerordentlich kurz, daß ein
starkes Wechseln der Linien an den Hauptpunkten nicht wahr¬
scheinlich ist: daher die Thatsache der relativen Zähigkeit, der
Altehrwürdigkeit in unseren wichtigsten Moralsätzen, die doch
nur der ganz Oberflächliche, der um jeden Preis neuern möchte,
übersehen kann.

Uns, die wir in die Sache automatisch eingedrillt sind,
erscheint es selbstverständlich, daß die Prostituierte eine "un¬
moralische" Rolle spiele. Ohne jene Unlogik wäre aber ur¬
sprünglich gar kein Anlaß zu solchem Werturteil gewesen.

Es war für die sich entwickelnde Menschheit an sich nichts
Unmoralisches, daß ein Weib mit mehreren Männern verkehrte.
Es widersprach das der Dauerehe, aber wir haben gesehen,
daß diese Dauerehe sich erst langsam aus der Zeitehe heraus¬
krystallisiert hat, und wir reden eben ja gerade von Möglich¬
keiten, wo das Soziale bei den Menschen die Ehe überhaupt
wieder durchkreuzte. Es war auch nichts Unmoralisches, daß
ein Weib auf seinen materiellen Wert taxiert wurde und daß
der Werber eine Herde Ochsen zahlte, um es zu gewinnen;
dieses Prinzip beherrscht gerade die Ehe in ihren ganzen
menschlichen Anfängen, es ist keineswegs von der Prostitution

Wir ſind uns einig, nicht wahr, daß niemals in der
Weltgeſchichte eine „Moral“ von einem übernatürlichen Himmel
heruntergeregnet iſt. Auch in allen Moralanſchauungen walten
die einfachen natürlichen Geſetze, die auch deine Arme und
Beine geſchaffen haben. Jedem Moralgeſetz liegt zu Grunde
das inſtinktive, ahnende Taſten nach einer Logik im poſitiven,
einer Unlogik im negativen Sinne. Je ſicherer der Inſtinkt
ging, deſto größer iſt die weltgeſchichtliche Kraft eines ſolchen
Moralgeſetzes, — wobei natürlich der Entwickelung freier
Raum bleibt; eine zeitliche Unlogik braucht nicht ewige Dauer
zu behalten und damit muß der logiſche Inſtinkt ſich modeln
und in ſeiner Folge wieder die Moral ſich ändern; im all¬
gemeinen aber iſt die Geſchichte der Menſchheit in ihren paar
hellen Jahrtauſenden noch ſo außerordentlich kurz, daß ein
ſtarkes Wechſeln der Linien an den Hauptpunkten nicht wahr¬
ſcheinlich iſt: daher die Thatſache der relativen Zähigkeit, der
Altehrwürdigkeit in unſeren wichtigſten Moralſätzen, die doch
nur der ganz Oberflächliche, der um jeden Preis neuern möchte,
überſehen kann.

Uns, die wir in die Sache automatiſch eingedrillt ſind,
erſcheint es ſelbſtverſtändlich, daß die Proſtituierte eine „un¬
moraliſche“ Rolle ſpiele. Ohne jene Unlogik wäre aber ur¬
ſprünglich gar kein Anlaß zu ſolchem Werturteil geweſen.

Es war für die ſich entwickelnde Menſchheit an ſich nichts
Unmoraliſches, daß ein Weib mit mehreren Männern verkehrte.
Es widerſprach das der Dauerehe, aber wir haben geſehen,
daß dieſe Dauerehe ſich erſt langſam aus der Zeitehe heraus¬
kryſtalliſiert hat, und wir reden eben ja gerade von Möglich¬
keiten, wo das Soziale bei den Menſchen die Ehe überhaupt
wieder durchkreuzte. Es war auch nichts Unmoraliſches, daß
ein Weib auf ſeinen materiellen Wert taxiert wurde und daß
der Werber eine Herde Ochſen zahlte, um es zu gewinnen;
dieſes Prinzip beherrſcht gerade die Ehe in ihren ganzen
menſchlichen Anfängen, es iſt keineswegs von der Proſtitution

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[262/0276] Wir ſind uns einig, nicht wahr, daß niemals in der Weltgeſchichte eine „Moral“ von einem übernatürlichen Himmel heruntergeregnet iſt. Auch in allen Moralanſchauungen walten die einfachen natürlichen Geſetze, die auch deine Arme und Beine geſchaffen haben. Jedem Moralgeſetz liegt zu Grunde das inſtinktive, ahnende Taſten nach einer Logik im poſitiven, einer Unlogik im negativen Sinne. Je ſicherer der Inſtinkt ging, deſto größer iſt die weltgeſchichtliche Kraft eines ſolchen Moralgeſetzes, — wobei natürlich der Entwickelung freier Raum bleibt; eine zeitliche Unlogik braucht nicht ewige Dauer zu behalten und damit muß der logiſche Inſtinkt ſich modeln und in ſeiner Folge wieder die Moral ſich ändern; im all¬ gemeinen aber iſt die Geſchichte der Menſchheit in ihren paar hellen Jahrtauſenden noch ſo außerordentlich kurz, daß ein ſtarkes Wechſeln der Linien an den Hauptpunkten nicht wahr¬ ſcheinlich iſt: daher die Thatſache der relativen Zähigkeit, der Altehrwürdigkeit in unſeren wichtigſten Moralſätzen, die doch nur der ganz Oberflächliche, der um jeden Preis neuern möchte, überſehen kann. Uns, die wir in die Sache automatiſch eingedrillt ſind, erſcheint es ſelbſtverſtändlich, daß die Proſtituierte eine „un¬ moraliſche“ Rolle ſpiele. Ohne jene Unlogik wäre aber ur¬ ſprünglich gar kein Anlaß zu ſolchem Werturteil geweſen. Es war für die ſich entwickelnde Menſchheit an ſich nichts Unmoraliſches, daß ein Weib mit mehreren Männern verkehrte. Es widerſprach das der Dauerehe, aber wir haben geſehen, daß dieſe Dauerehe ſich erſt langſam aus der Zeitehe heraus¬ kryſtalliſiert hat, und wir reden eben ja gerade von Möglich¬ keiten, wo das Soziale bei den Menſchen die Ehe überhaupt wieder durchkreuzte. Es war auch nichts Unmoraliſches, daß ein Weib auf ſeinen materiellen Wert taxiert wurde und daß der Werber eine Herde Ochſen zahlte, um es zu gewinnen; dieſes Prinzip beherrſcht gerade die Ehe in ihren ganzen menſchlichen Anfängen, es iſt keineswegs von der Proſtitution

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/276>, abgerufen am 24.11.2024.