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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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und meiner selber weltschaffenden Vorstellung, -- dieses un¬
geheuere Gebiet des Überwältigenden, das aus dem Menschen
selbst quoll, ob er auch die Augen geschlossen hielt, ob er wie
tot da lag und von allem sonst Sichtbaren nichts sah, -- --
das ist die eine tiefe Urwurzel religiösen Grübelns, die mit
Sozialem, mit Wirtschaftlichem, mit Ehe, mit alledem zunächst
gar nichts zu thun hatte. Was hierher stammt, will auch ganz
besonders verrechnet werden.

Verfolgt man auf die rein religiöse Linie hin, so erhält
man viel deutlichere Bilder als das alte sagenhaft ausgeschminkte
aus Babylon als Grundphänomen. In Indien ist es noch
heute der Gott selber, der die Jungfrauschaft raubt, freilich
der Gott im Sinne schon der Verkörperung, der Bannung gleich¬
sam des Unberechenbaren, Gespenstischen in ein greifbares
Götzenbild. Das Götzenbild ist schon eine Stufe des Aus¬
wegs. Das ganz Inkommensurable des Gespenstes ist ein¬
gefangen in ein äußeres Bild, die Phantasie hat sich befreit,
hat geboren, geschaffen. Mit diesem Götzenbild läßt sich jetzt
schon erträglicher leben. Der Kultus umgiebt es, der Priester
setzt sich als Wächter, als Sprecher daneben. Das Unberechen¬
bare wird etwa so berechenbar!

Nun denn: das Götzenbild entjungfert also auch auf Ver¬
langen. Im indischen Lingamdienst setzt sich die Braut auf das
Götzenbild, das mit einem männlichen Gliede in Nachahmung
versehen ist, und wird so entblättert, ehe sie in die Ehe tritt.

Je mehr dann, auf noch weiterer religiöser Stufe, aber
der Priester als Mensch von Fleisch und Bein wieder das
starre Götzenbild ersetzt, zum Vollstrecker des Gottes, zum
Gespensteraustreiber, zum Medium zwischen dem Menschen und
dem Dämonischen wird, desto näher tritt, daß auch er über¬
nimmt, was ursprünglich der Dämon selbst und dann das
Götzenbild leisteten. Wie der Priester schließlich das Opfer¬
fleisch ruhig ißt, das zur Versöhnung der Gottheit in den
Tempel gebracht wird, so pflückt er die Mädchenblüte, mit der

und meiner ſelber weltſchaffenden Vorſtellung, — dieſes un¬
geheuere Gebiet des Überwältigenden, das aus dem Menſchen
ſelbſt quoll, ob er auch die Augen geſchloſſen hielt, ob er wie
tot da lag und von allem ſonſt Sichtbaren nichts ſah, — —
das iſt die eine tiefe Urwurzel religiöſen Grübelns, die mit
Sozialem, mit Wirtſchaftlichem, mit Ehe, mit alledem zunächſt
gar nichts zu thun hatte. Was hierher ſtammt, will auch ganz
beſonders verrechnet werden.

Verfolgt man auf die rein religiöſe Linie hin, ſo erhält
man viel deutlichere Bilder als das alte ſagenhaft ausgeſchminkte
aus Babylon als Grundphänomen. In Indien iſt es noch
heute der Gott ſelber, der die Jungfrauſchaft raubt, freilich
der Gott im Sinne ſchon der Verkörperung, der Bannung gleich¬
ſam des Unberechenbaren, Geſpenſtiſchen in ein greifbares
Götzenbild. Das Götzenbild iſt ſchon eine Stufe des Aus¬
wegs. Das ganz Inkommenſurable des Geſpenſtes iſt ein¬
gefangen in ein äußeres Bild, die Phantaſie hat ſich befreit,
hat geboren, geſchaffen. Mit dieſem Götzenbild läßt ſich jetzt
ſchon erträglicher leben. Der Kultus umgiebt es, der Prieſter
ſetzt ſich als Wächter, als Sprecher daneben. Das Unberechen¬
bare wird etwa ſo berechenbar!

Nun denn: das Götzenbild entjungfert alſo auch auf Ver¬
langen. Im indiſchen Lingamdienſt ſetzt ſich die Braut auf das
Götzenbild, das mit einem männlichen Gliede in Nachahmung
verſehen iſt, und wird ſo entblättert, ehe ſie in die Ehe tritt.

Je mehr dann, auf noch weiterer religiöſer Stufe, aber
der Prieſter als Menſch von Fleiſch und Bein wieder das
ſtarre Götzenbild erſetzt, zum Vollſtrecker des Gottes, zum
Geſpenſteraustreiber, zum Medium zwiſchen dem Menſchen und
dem Dämoniſchen wird, deſto näher tritt, daß auch er über¬
nimmt, was urſprünglich der Dämon ſelbſt und dann das
Götzenbild leiſteten. Wie der Prieſter ſchließlich das Opfer¬
fleiſch ruhig ißt, das zur Verſöhnung der Gottheit in den
Tempel gebracht wird, ſo pflückt er die Mädchenblüte, mit der

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[278/0292] und meiner ſelber weltſchaffenden Vorſtellung, — dieſes un¬ geheuere Gebiet des Überwältigenden, das aus dem Menſchen ſelbſt quoll, ob er auch die Augen geſchloſſen hielt, ob er wie tot da lag und von allem ſonſt Sichtbaren nichts ſah, — — das iſt die eine tiefe Urwurzel religiöſen Grübelns, die mit Sozialem, mit Wirtſchaftlichem, mit Ehe, mit alledem zunächſt gar nichts zu thun hatte. Was hierher ſtammt, will auch ganz beſonders verrechnet werden. Verfolgt man auf die rein religiöſe Linie hin, ſo erhält man viel deutlichere Bilder als das alte ſagenhaft ausgeſchminkte aus Babylon als Grundphänomen. In Indien iſt es noch heute der Gott ſelber, der die Jungfrauſchaft raubt, freilich der Gott im Sinne ſchon der Verkörperung, der Bannung gleich¬ ſam des Unberechenbaren, Geſpenſtiſchen in ein greifbares Götzenbild. Das Götzenbild iſt ſchon eine Stufe des Aus¬ wegs. Das ganz Inkommenſurable des Geſpenſtes iſt ein¬ gefangen in ein äußeres Bild, die Phantaſie hat ſich befreit, hat geboren, geſchaffen. Mit dieſem Götzenbild läßt ſich jetzt ſchon erträglicher leben. Der Kultus umgiebt es, der Prieſter ſetzt ſich als Wächter, als Sprecher daneben. Das Unberechen¬ bare wird etwa ſo berechenbar! Nun denn: das Götzenbild entjungfert alſo auch auf Ver¬ langen. Im indiſchen Lingamdienſt ſetzt ſich die Braut auf das Götzenbild, das mit einem männlichen Gliede in Nachahmung verſehen iſt, und wird ſo entblättert, ehe ſie in die Ehe tritt. Je mehr dann, auf noch weiterer religiöſer Stufe, aber der Prieſter als Menſch von Fleiſch und Bein wieder das ſtarre Götzenbild erſetzt, zum Vollſtrecker des Gottes, zum Geſpenſteraustreiber, zum Medium zwiſchen dem Menſchen und dem Dämoniſchen wird, deſto näher tritt, daß auch er über¬ nimmt, was urſprünglich der Dämon ſelbſt und dann das Götzenbild leiſteten. Wie der Prieſter ſchließlich das Opfer¬ fleiſch ruhig ißt, das zur Verſöhnung der Gottheit in den Tempel gebracht wird, ſo pflückt er die Mädchenblüte, mit der

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/292>, abgerufen am 21.11.2024.