die Braut sich vom Dämon loskauft. In Nikaragua entjungferte der Oberpriester pflichtmäßig die Braut, und Ähnliches findet noch jetzt bei indischen Brahminen statt.
Wieder von hier ist aber noch nur ein kleiner Schritt zu einem weiteren Brauch menschlicher Nachhilfe, -- Nachhilfe durch den dämonisierten Menschen schlechthin. Zu den Momenten, in denen das Dämonische sich selbstthätig aus der Menschenseele gebar, gehört seit alters auch der Rausch. Ungeheuer ist seine Rolle in allen Phasen des niederen, gröberen religiösen Lebens, als heilige Orgie, dämonische Trunkenheit. Die Gemeinde der Frommen berauscht sich: jetzt ist jeder des Dämons voll, er ist für eine Stunde aufgelöst in der Gottheit, der Gott handelt durch ihn. Das Mädchen, das von ihm in dieser Orgie des Dämonischen entjungfert wird, verfällt nicht ihm, in der Schranke menschlicher Sozial- und Ehesatzungen: es ist Gottes geworden durch ihn, hat sein Gottesopfer gebracht, nach dem es geläutert, dämonologisch gerettet zu dem Erwählten seines Herzens zurückkehren kann, ohne daß der Gott es dort mehr abverlangen wird.
Erst von hier gerätst du im wahren Sinne auf die baby¬ lonische Sachlage, wo ein Beliebiger die Braut im Tempel entblättern kann, -- wenn es nur eben innerhalb der heiligen Orgie von einem dämonisch Berauschten geschieht. Durch die Geschichte aller Religionssysteme zieht sich der zähe Glaube, oft verketzert, aber ebenso oft auferstanden, daß solche Momente der heiligen Verzückung, die die versammelte Gemeinde über¬ kommen, alle Moralschranken brechen und für eine Weihestunde im Reich freier Liebe herstellen dürften, dessen Handlungen keiner folgenden Moralkritik unterlägen. Die erotischen Orgien zahlloser Sekten zeugen davon, bei wilden wie zahmen Völkern. Nüchtern physisch gesprochen liegt zweierlei darin: die dumpfe Anerkennung des Dämonischen im Rausch, des plötzlichen Auf¬ wachens der unberechenbaren Phantasiegewalten unter dem Ein¬ fluß der Narkotika -- und die Erfahrung des plötzlichen, ebenso
die Braut ſich vom Dämon loskauft. In Nikaragua entjungferte der Oberprieſter pflichtmäßig die Braut, und Ähnliches findet noch jetzt bei indiſchen Brahminen ſtatt.
Wieder von hier iſt aber noch nur ein kleiner Schritt zu einem weiteren Brauch menſchlicher Nachhilfe, — Nachhilfe durch den dämoniſierten Menſchen ſchlechthin. Zu den Momenten, in denen das Dämoniſche ſich ſelbſtthätig aus der Menſchenſeele gebar, gehört ſeit alters auch der Rauſch. Ungeheuer iſt ſeine Rolle in allen Phaſen des niederen, gröberen religiöſen Lebens, als heilige Orgie, dämoniſche Trunkenheit. Die Gemeinde der Frommen berauſcht ſich: jetzt iſt jeder des Dämons voll, er iſt für eine Stunde aufgelöſt in der Gottheit, der Gott handelt durch ihn. Das Mädchen, das von ihm in dieſer Orgie des Dämoniſchen entjungfert wird, verfällt nicht ihm, in der Schranke menſchlicher Sozial- und Eheſatzungen: es iſt Gottes geworden durch ihn, hat ſein Gottesopfer gebracht, nach dem es geläutert, dämonologiſch gerettet zu dem Erwählten ſeines Herzens zurückkehren kann, ohne daß der Gott es dort mehr abverlangen wird.
Erſt von hier gerätſt du im wahren Sinne auf die baby¬ loniſche Sachlage, wo ein Beliebiger die Braut im Tempel entblättern kann, — wenn es nur eben innerhalb der heiligen Orgie von einem dämoniſch Berauſchten geſchieht. Durch die Geſchichte aller Religionsſyſteme zieht ſich der zähe Glaube, oft verketzert, aber ebenſo oft auferſtanden, daß ſolche Momente der heiligen Verzückung, die die verſammelte Gemeinde über¬ kommen, alle Moralſchranken brechen und für eine Weiheſtunde im Reich freier Liebe herſtellen dürften, deſſen Handlungen keiner folgenden Moralkritik unterlägen. Die erotiſchen Orgien zahlloſer Sekten zeugen davon, bei wilden wie zahmen Völkern. Nüchtern phyſiſch geſprochen liegt zweierlei darin: die dumpfe Anerkennung des Dämoniſchen im Rauſch, des plötzlichen Auf¬ wachens der unberechenbaren Phantaſiegewalten unter dem Ein¬ fluß der Narkotika — und die Erfahrung des plötzlichen, ebenſo
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0293"n="279"/>
die Braut ſich vom Dämon loskauft. In Nikaragua entjungferte<lb/>
der Oberprieſter pflichtmäßig die Braut, und Ähnliches findet noch<lb/>
jetzt bei indiſchen Brahminen ſtatt.</p><lb/><p>Wieder von hier iſt aber noch nur ein kleiner Schritt zu<lb/>
einem weiteren Brauch menſchlicher Nachhilfe, — Nachhilfe durch<lb/>
den dämoniſierten Menſchen ſchlechthin. Zu den Momenten,<lb/>
in denen das Dämoniſche ſich ſelbſtthätig aus der Menſchenſeele<lb/>
gebar, gehört ſeit alters auch der Rauſch. Ungeheuer iſt ſeine<lb/>
Rolle in allen Phaſen des niederen, gröberen religiöſen Lebens,<lb/>
als heilige Orgie, dämoniſche Trunkenheit. Die Gemeinde der<lb/>
Frommen berauſcht ſich: jetzt iſt jeder des Dämons voll, er<lb/>
iſt für eine Stunde aufgelöſt in der Gottheit, der Gott handelt<lb/>
durch ihn. Das Mädchen, das von ihm in dieſer Orgie des<lb/>
Dämoniſchen entjungfert wird, verfällt nicht ihm, in der<lb/>
Schranke menſchlicher Sozial- und Eheſatzungen: es iſt Gottes<lb/>
geworden durch ihn, hat ſein Gottesopfer gebracht, nach dem es<lb/>
geläutert, dämonologiſch gerettet zu dem Erwählten ſeines<lb/>
Herzens zurückkehren kann, ohne daß der Gott es dort mehr<lb/>
abverlangen wird.</p><lb/><p>Erſt von hier gerätſt du im wahren Sinne auf die baby¬<lb/>
loniſche Sachlage, wo ein Beliebiger die Braut im Tempel<lb/>
entblättern kann, — wenn es nur eben innerhalb der heiligen<lb/>
Orgie von einem dämoniſch Berauſchten geſchieht. Durch die<lb/>
Geſchichte aller Religionsſyſteme zieht ſich der zähe Glaube,<lb/>
oft verketzert, aber ebenſo oft auferſtanden, daß ſolche Momente<lb/>
der heiligen Verzückung, die die verſammelte Gemeinde über¬<lb/>
kommen, alle Moralſchranken brechen und für eine Weiheſtunde<lb/>
im Reich freier Liebe herſtellen dürften, deſſen Handlungen<lb/>
keiner folgenden Moralkritik unterlägen. Die erotiſchen Orgien<lb/>
zahlloſer Sekten zeugen davon, bei wilden wie zahmen Völkern.<lb/>
Nüchtern phyſiſch geſprochen liegt zweierlei darin: die dumpfe<lb/>
Anerkennung des Dämoniſchen im Rauſch, des plötzlichen Auf¬<lb/>
wachens der unberechenbaren Phantaſiegewalten unter dem Ein¬<lb/>
fluß der Narkotika — und die Erfahrung des plötzlichen, ebenſo<lb/></p></div></body></text></TEI>
[279/0293]
die Braut ſich vom Dämon loskauft. In Nikaragua entjungferte
der Oberprieſter pflichtmäßig die Braut, und Ähnliches findet noch
jetzt bei indiſchen Brahminen ſtatt.
Wieder von hier iſt aber noch nur ein kleiner Schritt zu
einem weiteren Brauch menſchlicher Nachhilfe, — Nachhilfe durch
den dämoniſierten Menſchen ſchlechthin. Zu den Momenten,
in denen das Dämoniſche ſich ſelbſtthätig aus der Menſchenſeele
gebar, gehört ſeit alters auch der Rauſch. Ungeheuer iſt ſeine
Rolle in allen Phaſen des niederen, gröberen religiöſen Lebens,
als heilige Orgie, dämoniſche Trunkenheit. Die Gemeinde der
Frommen berauſcht ſich: jetzt iſt jeder des Dämons voll, er
iſt für eine Stunde aufgelöſt in der Gottheit, der Gott handelt
durch ihn. Das Mädchen, das von ihm in dieſer Orgie des
Dämoniſchen entjungfert wird, verfällt nicht ihm, in der
Schranke menſchlicher Sozial- und Eheſatzungen: es iſt Gottes
geworden durch ihn, hat ſein Gottesopfer gebracht, nach dem es
geläutert, dämonologiſch gerettet zu dem Erwählten ſeines
Herzens zurückkehren kann, ohne daß der Gott es dort mehr
abverlangen wird.
Erſt von hier gerätſt du im wahren Sinne auf die baby¬
loniſche Sachlage, wo ein Beliebiger die Braut im Tempel
entblättern kann, — wenn es nur eben innerhalb der heiligen
Orgie von einem dämoniſch Berauſchten geſchieht. Durch die
Geſchichte aller Religionsſyſteme zieht ſich der zähe Glaube,
oft verketzert, aber ebenſo oft auferſtanden, daß ſolche Momente
der heiligen Verzückung, die die verſammelte Gemeinde über¬
kommen, alle Moralſchranken brechen und für eine Weiheſtunde
im Reich freier Liebe herſtellen dürften, deſſen Handlungen
keiner folgenden Moralkritik unterlägen. Die erotiſchen Orgien
zahlloſer Sekten zeugen davon, bei wilden wie zahmen Völkern.
Nüchtern phyſiſch geſprochen liegt zweierlei darin: die dumpfe
Anerkennung des Dämoniſchen im Rauſch, des plötzlichen Auf¬
wachens der unberechenbaren Phantaſiegewalten unter dem Ein¬
fluß der Narkotika — und die Erfahrung des plötzlichen, ebenſo
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/293>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.