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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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unberechenbaren Erwachens stürmischer erotischer Wünsche durch
den gleichen narkotischen Reiz. Ist der Rausch vorbei, so be¬
greifen alle nicht, wie sie das thun konnten. So muß es der
Dämon gewesen sein. Er heiligt alles, auch den erotischen
Exzeß, der sonst die bittersten gesellschaftlichen Strafen forderte.
Von hier versteht man, daß nicht bloß das Jungfrauenopfer
an die Gottheit in diese Orgie verlegt wurde, sondern auch,
daß periodisch wiederkehrende Orgien kleine Zwischenreiche freier
Trunkenheitsliebe, wo jeder jedem gehörte ohne Unterschied,
im sonst ganz festen Eheleben bilden konnten. Erinnere dich
der antiken Aphrodite-Feste, der Saturnalien und des ganzen
dem Kultus eng nachschleifenden Kometenschwanzes karneva¬
listischer "Freizeiten" bis auf den heutigen Tag.

Es genügt, diese für sich so unendlich verwickelte religiöse
Linie so weit aufzurollen, -- mehr führte aus dem Rahmen
unseres Gespräches zu weit hinaus. Aber du siehst, denke ich,
dabei wieder das gleiche: nichts in diesen Dingen weist auf
ein schon einmal errungenes Urreich sozialer Freiliebe mit
Ausschaltung der Ehe. Auch dieser Liebeskompromiß mit den
Göttern läßt die Ehe als das Ursprüngliche erscheinen, das auf
Kompromisse einging, nichts weiter. Wo die Existenz der Jung¬
frauschaft für die Ehe eine sittliche Voraussetzung war, da
haben alle diese religiösen Dinge offenbar sogar nicht einmal
die Macht besessen, jene Konzessionen zu erzwingen.

[Abbildung]

Wie mit diesen Stützen der Theorie, so geht's auch mit
den andern. Das Mutterrecht sollte unmittelbar auf eine Zeit
deuten, wo für das Kind nur die Mutter genau nachweisbar
war, während der Vater unklar blieb, sintemalen die Mutter
mit beliebigen Männern des Stammes frei verkehrte. Wie
dort die religiöse, so wird aber hier die medizinische, die

unberechenbaren Erwachens ſtürmiſcher erotiſcher Wünſche durch
den gleichen narkotiſchen Reiz. Iſt der Rauſch vorbei, ſo be¬
greifen alle nicht, wie ſie das thun konnten. So muß es der
Dämon geweſen ſein. Er heiligt alles, auch den erotiſchen
Exzeß, der ſonſt die bitterſten geſellſchaftlichen Strafen forderte.
Von hier verſteht man, daß nicht bloß das Jungfrauenopfer
an die Gottheit in dieſe Orgie verlegt wurde, ſondern auch,
daß periodiſch wiederkehrende Orgien kleine Zwiſchenreiche freier
Trunkenheitsliebe, wo jeder jedem gehörte ohne Unterſchied,
im ſonſt ganz feſten Eheleben bilden konnten. Erinnere dich
der antiken Aphrodite-Feſte, der Saturnalien und des ganzen
dem Kultus eng nachſchleifenden Kometenſchwanzes karneva¬
liſtiſcher „Freizeiten“ bis auf den heutigen Tag.

Es genügt, dieſe für ſich ſo unendlich verwickelte religiöſe
Linie ſo weit aufzurollen, — mehr führte aus dem Rahmen
unſeres Geſpräches zu weit hinaus. Aber du ſiehſt, denke ich,
dabei wieder das gleiche: nichts in dieſen Dingen weiſt auf
ein ſchon einmal errungenes Urreich ſozialer Freiliebe mit
Ausſchaltung der Ehe. Auch dieſer Liebeskompromiß mit den
Göttern läßt die Ehe als das Urſprüngliche erſcheinen, das auf
Kompromiſſe einging, nichts weiter. Wo die Exiſtenz der Jung¬
frauſchaft für die Ehe eine ſittliche Vorausſetzung war, da
haben alle dieſe religiöſen Dinge offenbar ſogar nicht einmal
die Macht beſeſſen, jene Konzeſſionen zu erzwingen.

[Abbildung]

Wie mit dieſen Stützen der Theorie, ſo geht's auch mit
den andern. Das Mutterrecht ſollte unmittelbar auf eine Zeit
deuten, wo für das Kind nur die Mutter genau nachweisbar
war, während der Vater unklar blieb, ſintemalen die Mutter
mit beliebigen Männern des Stammes frei verkehrte. Wie
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[280/0294] unberechenbaren Erwachens ſtürmiſcher erotiſcher Wünſche durch den gleichen narkotiſchen Reiz. Iſt der Rauſch vorbei, ſo be¬ greifen alle nicht, wie ſie das thun konnten. So muß es der Dämon geweſen ſein. Er heiligt alles, auch den erotiſchen Exzeß, der ſonſt die bitterſten geſellſchaftlichen Strafen forderte. Von hier verſteht man, daß nicht bloß das Jungfrauenopfer an die Gottheit in dieſe Orgie verlegt wurde, ſondern auch, daß periodiſch wiederkehrende Orgien kleine Zwiſchenreiche freier Trunkenheitsliebe, wo jeder jedem gehörte ohne Unterſchied, im ſonſt ganz feſten Eheleben bilden konnten. Erinnere dich der antiken Aphrodite-Feſte, der Saturnalien und des ganzen dem Kultus eng nachſchleifenden Kometenſchwanzes karneva¬ liſtiſcher „Freizeiten“ bis auf den heutigen Tag. Es genügt, dieſe für ſich ſo unendlich verwickelte religiöſe Linie ſo weit aufzurollen, — mehr führte aus dem Rahmen unſeres Geſpräches zu weit hinaus. Aber du ſiehſt, denke ich, dabei wieder das gleiche: nichts in dieſen Dingen weiſt auf ein ſchon einmal errungenes Urreich ſozialer Freiliebe mit Ausſchaltung der Ehe. Auch dieſer Liebeskompromiß mit den Göttern läßt die Ehe als das Urſprüngliche erſcheinen, das auf Kompromiſſe einging, nichts weiter. Wo die Exiſtenz der Jung¬ frauſchaft für die Ehe eine ſittliche Vorausſetzung war, da haben alle dieſe religiöſen Dinge offenbar ſogar nicht einmal die Macht beſeſſen, jene Konzeſſionen zu erzwingen. [Abbildung] Wie mit dieſen Stützen der Theorie, ſo geht's auch mit den andern. Das Mutterrecht ſollte unmittelbar auf eine Zeit deuten, wo für das Kind nur die Mutter genau nachweisbar war, während der Vater unklar blieb, ſintemalen die Mutter mit beliebigen Männern des Stammes frei verkehrte. Wie dort die religiöſe, ſo wird aber hier die mediziniſche, die

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/294>, abgerufen am 21.11.2024.