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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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embryologische Seite übersehen. Du hast selbst mit verfolgt,
wie leicht und restlos das ganze Mutterrecht auch in einen
Gedankengang sich einfügt, der einen Urstand der freien Ge¬
schlechtsvermischung ohne Ehe weder braucht noch findet.

Verwickelte Verwandtschaftsbeziehungen bei Indianern,
Australiern, Polynesiern, seltsame Bezeichnungen da, die uns
unbegreiflich dünken, mußten herhalten als Fossilien, als
Winkelreste einer Urverwandtschaft, die sich auf Allbesitz aller
Männer an allen Weibern des eigenen oder eines zweiten
Stammes beziehen sollten. Aber umsonst ist es, in dieses
Labyrinth mit irgend einer festen Theorie eindringen zu wollen.
Ein Dutzend Theorien der verschiedensten Art lassen sich alle
darauf gründen, alle mit Spitzfindigkeiten, alle ohne Gewähr,
daß ihrer nachträglichen Logik zwar nicht die freie Liebe, wohl
aber die freie Phantasie und Rechtsklügelei der Wilden ein
Schnippchen schlägt.

Diese unendlich spintisierende Völkerphantasie, die sich in
den tollsten Sittenarabesken manifestiert, hat ja unsere Zeit,
die das Religiöse überall in seiner Wurzelwucht unterschätzt,
ebenso willig vernachlässigt, -- die Theorien dieser Zeit büßen
aber auch dafür. Sie haben nur zu oft etwas an sich von
dem Mathematiker, der festgestellt hat, daß die gerade Linie
die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei, und der
nun für absolut selbstverständlich hält, daß jeder Wanderer, der
vom einen Punkt kommt und bei dem zweiten anlangt, diese
gerade Linie gegangen sei. Ach, die Menschheit hat Zeit gehabt.
Sie war verliebt, verträumt, verspielt, besoffen, tausenderlei,
und alles Auf und Ab dieser Stimmungen lag auf ihrem
Wege. Ein Rösselsprung der Phantasie war dieser Weg, keine
mathematische Linie!

Fällt aber die ehelose Urliebe im Ganzen dahin, so wird
auch die Hilfstheorie ziemlich gleichgültig, die allen mensch¬
lichen Eheanfang aus dem Frauenraub herausdestillieren möchte.

Ich gebe gern zu, daß der Frauenraub und Frauenkauf

embryologiſche Seite überſehen. Du haſt ſelbſt mit verfolgt,
wie leicht und reſtlos das ganze Mutterrecht auch in einen
Gedankengang ſich einfügt, der einen Urſtand der freien Ge¬
ſchlechtsvermiſchung ohne Ehe weder braucht noch findet.

Verwickelte Verwandtſchaftsbeziehungen bei Indianern,
Auſtraliern, Polyneſiern, ſeltſame Bezeichnungen da, die uns
unbegreiflich dünken, mußten herhalten als Foſſilien, als
Winkelreſte einer Urverwandtſchaft, die ſich auf Allbeſitz aller
Männer an allen Weibern des eigenen oder eines zweiten
Stammes beziehen ſollten. Aber umſonſt iſt es, in dieſes
Labyrinth mit irgend einer feſten Theorie eindringen zu wollen.
Ein Dutzend Theorien der verſchiedenſten Art laſſen ſich alle
darauf gründen, alle mit Spitzfindigkeiten, alle ohne Gewähr,
daß ihrer nachträglichen Logik zwar nicht die freie Liebe, wohl
aber die freie Phantaſie und Rechtsklügelei der Wilden ein
Schnippchen ſchlägt.

Dieſe unendlich ſpintiſierende Völkerphantaſie, die ſich in
den tollſten Sittenarabesken manifeſtiert, hat ja unſere Zeit,
die das Religiöſe überall in ſeiner Wurzelwucht unterſchätzt,
ebenſo willig vernachläſſigt, — die Theorien dieſer Zeit büßen
aber auch dafür. Sie haben nur zu oft etwas an ſich von
dem Mathematiker, der feſtgeſtellt hat, daß die gerade Linie
die kürzeſte Verbindung zwiſchen zwei Punkten ſei, und der
nun für abſolut ſelbſtverſtändlich hält, daß jeder Wanderer, der
vom einen Punkt kommt und bei dem zweiten anlangt, dieſe
gerade Linie gegangen ſei. Ach, die Menſchheit hat Zeit gehabt.
Sie war verliebt, verträumt, verſpielt, beſoffen, tauſenderlei,
und alles Auf und Ab dieſer Stimmungen lag auf ihrem
Wege. Ein Röſſelſprung der Phantaſie war dieſer Weg, keine
mathematiſche Linie!

Fällt aber die eheloſe Urliebe im Ganzen dahin, ſo wird
auch die Hilfstheorie ziemlich gleichgültig, die allen menſch¬
lichen Eheanfang aus dem Frauenraub herausdeſtillieren möchte.

Ich gebe gern zu, daß der Frauenraub und Frauenkauf

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[281/0295] embryologiſche Seite überſehen. Du haſt ſelbſt mit verfolgt, wie leicht und reſtlos das ganze Mutterrecht auch in einen Gedankengang ſich einfügt, der einen Urſtand der freien Ge¬ ſchlechtsvermiſchung ohne Ehe weder braucht noch findet. Verwickelte Verwandtſchaftsbeziehungen bei Indianern, Auſtraliern, Polyneſiern, ſeltſame Bezeichnungen da, die uns unbegreiflich dünken, mußten herhalten als Foſſilien, als Winkelreſte einer Urverwandtſchaft, die ſich auf Allbeſitz aller Männer an allen Weibern des eigenen oder eines zweiten Stammes beziehen ſollten. Aber umſonſt iſt es, in dieſes Labyrinth mit irgend einer feſten Theorie eindringen zu wollen. Ein Dutzend Theorien der verſchiedenſten Art laſſen ſich alle darauf gründen, alle mit Spitzfindigkeiten, alle ohne Gewähr, daß ihrer nachträglichen Logik zwar nicht die freie Liebe, wohl aber die freie Phantaſie und Rechtsklügelei der Wilden ein Schnippchen ſchlägt. Dieſe unendlich ſpintiſierende Völkerphantaſie, die ſich in den tollſten Sittenarabesken manifeſtiert, hat ja unſere Zeit, die das Religiöſe überall in ſeiner Wurzelwucht unterſchätzt, ebenſo willig vernachläſſigt, — die Theorien dieſer Zeit büßen aber auch dafür. Sie haben nur zu oft etwas an ſich von dem Mathematiker, der feſtgeſtellt hat, daß die gerade Linie die kürzeſte Verbindung zwiſchen zwei Punkten ſei, und der nun für abſolut ſelbſtverſtändlich hält, daß jeder Wanderer, der vom einen Punkt kommt und bei dem zweiten anlangt, dieſe gerade Linie gegangen ſei. Ach, die Menſchheit hat Zeit gehabt. Sie war verliebt, verträumt, verſpielt, beſoffen, tauſenderlei, und alles Auf und Ab dieſer Stimmungen lag auf ihrem Wege. Ein Röſſelſprung der Phantaſie war dieſer Weg, keine mathematiſche Linie! Fällt aber die eheloſe Urliebe im Ganzen dahin, ſo wird auch die Hilfstheorie ziemlich gleichgültig, die allen menſch¬ lichen Eheanfang aus dem Frauenraub herausdeſtillieren möchte. Ich gebe gern zu, daß der Frauenraub und Frauenkauf

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/295>, abgerufen am 21.11.2024.