Es liegt auf der Hand, daß diese feine Individualwahl auf Grund tiefster Sympathien der beiden elterlichen Individuen beim Menschen mit zunehmender Kultur unausgesetzt zunehmen und an Bedeutung gewinnen muß. Denke bloß an die un¬ sagbar verfeinerten Mittel, mit denen wir unsere tiefste Indivi¬ dualität geistig zum Ausdruck bringen können, je entwickelter unsere Bildungshöhe ist. Denke, was allein die menschliche Sprache hier geboten hat, was der unendliche Komplex von Möglichkeiten ethischer Handlungen, was die Bewährung von Wissen, von ausübenden Talenten, von feinem Lebenstakt. Und nun denke, wie gerade bei uns die feinsten vergeistigtsten Züge der Individualilität die wichtigsten als Wurzelwerte ge¬ worden sind. Nicht matter, sondern immer raffinierter muß dieses Spiel der individuellen Wahl werden. Je raffinierter es aber wird, desto stärker wächst die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Individuen, die sich als echt ergänzend erkannt haben, auch dauernd zusammen bleiben wollen für ein Menschenleben.
Dahinein mischt sich aber sogleich noch ein zweiter, erst recht spezifisch menschlicher Grund.
Das Vogelmännchen und Vogelweibchen hielten über die Zeugung hinaus zusammen, um ihre Kinder zu schützen. Denken wir uns diese Sorte groben Schutzes beim Menschen sozial abgelöst und also gleichgültig. Bleibt nun im Sinne jener individuellen Linie keine Notwendigkeit mehr, die Eltern und Kinder trotzdem zusammenhielte? Es bleibt in Wahrheit eine ganz außerordentlich große, eine schlechterdings unschätzbare.
Jene Ubertragung des Individuellen von den Eltern aufs Kind, jene Fortleitung der elterlichen Wurzelkonstellation geht nicht bloß durch die Zeugung, also durch Samenzelle und Eizelle. Deine Individualität als Kulturmensch umfaßt ganz andere Dinge noch als das, was deine Geschlechtsorgane in deinem Leibe produzieren. Mit deinem Zeugungsapparat kannst du nicht Goethes Faust übertragen. Du kannst ein Kind damit machen, aber dieses Kind bleibt ein Tier, wenn du ihm
Es liegt auf der Hand, daß dieſe feine Individualwahl auf Grund tiefſter Sympathien der beiden elterlichen Individuen beim Menſchen mit zunehmender Kultur unausgeſetzt zunehmen und an Bedeutung gewinnen muß. Denke bloß an die un¬ ſagbar verfeinerten Mittel, mit denen wir unſere tiefſte Indivi¬ dualität geiſtig zum Ausdruck bringen können, je entwickelter unſere Bildungshöhe iſt. Denke, was allein die menſchliche Sprache hier geboten hat, was der unendliche Komplex von Möglichkeiten ethiſcher Handlungen, was die Bewährung von Wiſſen, von ausübenden Talenten, von feinem Lebenstakt. Und nun denke, wie gerade bei uns die feinſten vergeiſtigtſten Züge der Individualilität die wichtigſten als Wurzelwerte ge¬ worden ſind. Nicht matter, ſondern immer raffinierter muß dieſes Spiel der individuellen Wahl werden. Je raffinierter es aber wird, deſto ſtärker wächſt die Wahrſcheinlichkeit, daß zwei Individuen, die ſich als echt ergänzend erkannt haben, auch dauernd zuſammen bleiben wollen für ein Menſchenleben.
Dahinein miſcht ſich aber ſogleich noch ein zweiter, erſt recht ſpezifiſch menſchlicher Grund.
Das Vogelmännchen und Vogelweibchen hielten über die Zeugung hinaus zuſammen, um ihre Kinder zu ſchützen. Denken wir uns dieſe Sorte groben Schutzes beim Menſchen ſozial abgelöſt und alſo gleichgültig. Bleibt nun im Sinne jener individuellen Linie keine Notwendigkeit mehr, die Eltern und Kinder trotzdem zuſammenhielte? Es bleibt in Wahrheit eine ganz außerordentlich große, eine ſchlechterdings unſchätzbare.
Jene Ubertragung des Individuellen von den Eltern aufs Kind, jene Fortleitung der elterlichen Wurzelkonſtellation geht nicht bloß durch die Zeugung, alſo durch Samenzelle und Eizelle. Deine Individualität als Kulturmenſch umfaßt ganz andere Dinge noch als das, was deine Geſchlechtsorgane in deinem Leibe produzieren. Mit deinem Zeugungsapparat kannſt du nicht Goethes Fauſt übertragen. Du kannſt ein Kind damit machen, aber dieſes Kind bleibt ein Tier, wenn du ihm
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0314"n="300"/><p>Es liegt auf der Hand, daß dieſe feine Individualwahl<lb/>
auf Grund tiefſter Sympathien der beiden elterlichen Individuen<lb/>
beim Menſchen mit zunehmender Kultur unausgeſetzt zunehmen<lb/>
und an Bedeutung gewinnen muß. Denke bloß an die un¬<lb/>ſagbar verfeinerten Mittel, mit denen wir unſere tiefſte Indivi¬<lb/>
dualität geiſtig zum Ausdruck bringen können, je entwickelter<lb/>
unſere Bildungshöhe iſt. Denke, was allein die menſchliche<lb/>
Sprache hier geboten hat, was der unendliche Komplex von<lb/>
Möglichkeiten ethiſcher Handlungen, was die Bewährung von<lb/>
Wiſſen, von ausübenden Talenten, von feinem Lebenstakt.<lb/>
Und nun denke, wie gerade bei uns die feinſten vergeiſtigtſten<lb/>
Züge der Individualilität die wichtigſten als Wurzelwerte ge¬<lb/>
worden ſind. Nicht matter, ſondern immer raffinierter muß<lb/>
dieſes Spiel der individuellen Wahl werden. Je raffinierter<lb/>
es aber wird, deſto ſtärker wächſt die Wahrſcheinlichkeit, daß<lb/>
zwei Individuen, die ſich als echt ergänzend erkannt haben,<lb/>
auch dauernd zuſammen bleiben wollen für ein Menſchenleben.</p><lb/><p>Dahinein miſcht ſich aber ſogleich noch ein zweiter, erſt<lb/>
recht ſpezifiſch menſchlicher Grund.</p><lb/><p>Das Vogelmännchen und Vogelweibchen hielten über die<lb/>
Zeugung hinaus zuſammen, um ihre Kinder zu ſchützen. Denken<lb/>
wir uns dieſe Sorte groben Schutzes beim Menſchen ſozial<lb/>
abgelöſt und alſo gleichgültig. Bleibt nun im Sinne jener<lb/>
individuellen Linie keine Notwendigkeit mehr, die Eltern und<lb/>
Kinder trotzdem zuſammenhielte? Es bleibt in Wahrheit eine<lb/>
ganz außerordentlich große, eine ſchlechterdings unſchätzbare.</p><lb/><p>Jene Ubertragung des Individuellen von den Eltern aufs<lb/>
Kind, jene Fortleitung der elterlichen Wurzelkonſtellation geht<lb/>
nicht bloß durch die Zeugung, alſo durch Samenzelle und<lb/>
Eizelle. Deine Individualität als Kulturmenſch umfaßt ganz<lb/>
andere Dinge noch als das, was deine Geſchlechtsorgane in<lb/>
deinem Leibe produzieren. Mit deinem Zeugungsapparat<lb/>
kannſt du nicht Goethes Fauſt übertragen. Du kannſt ein Kind<lb/>
damit machen, aber dieſes Kind bleibt ein Tier, wenn du ihm<lb/></p></div></body></text></TEI>
[300/0314]
Es liegt auf der Hand, daß dieſe feine Individualwahl
auf Grund tiefſter Sympathien der beiden elterlichen Individuen
beim Menſchen mit zunehmender Kultur unausgeſetzt zunehmen
und an Bedeutung gewinnen muß. Denke bloß an die un¬
ſagbar verfeinerten Mittel, mit denen wir unſere tiefſte Indivi¬
dualität geiſtig zum Ausdruck bringen können, je entwickelter
unſere Bildungshöhe iſt. Denke, was allein die menſchliche
Sprache hier geboten hat, was der unendliche Komplex von
Möglichkeiten ethiſcher Handlungen, was die Bewährung von
Wiſſen, von ausübenden Talenten, von feinem Lebenstakt.
Und nun denke, wie gerade bei uns die feinſten vergeiſtigtſten
Züge der Individualilität die wichtigſten als Wurzelwerte ge¬
worden ſind. Nicht matter, ſondern immer raffinierter muß
dieſes Spiel der individuellen Wahl werden. Je raffinierter
es aber wird, deſto ſtärker wächſt die Wahrſcheinlichkeit, daß
zwei Individuen, die ſich als echt ergänzend erkannt haben,
auch dauernd zuſammen bleiben wollen für ein Menſchenleben.
Dahinein miſcht ſich aber ſogleich noch ein zweiter, erſt
recht ſpezifiſch menſchlicher Grund.
Das Vogelmännchen und Vogelweibchen hielten über die
Zeugung hinaus zuſammen, um ihre Kinder zu ſchützen. Denken
wir uns dieſe Sorte groben Schutzes beim Menſchen ſozial
abgelöſt und alſo gleichgültig. Bleibt nun im Sinne jener
individuellen Linie keine Notwendigkeit mehr, die Eltern und
Kinder trotzdem zuſammenhielte? Es bleibt in Wahrheit eine
ganz außerordentlich große, eine ſchlechterdings unſchätzbare.
Jene Ubertragung des Individuellen von den Eltern aufs
Kind, jene Fortleitung der elterlichen Wurzelkonſtellation geht
nicht bloß durch die Zeugung, alſo durch Samenzelle und
Eizelle. Deine Individualität als Kulturmenſch umfaßt ganz
andere Dinge noch als das, was deine Geſchlechtsorgane in
deinem Leibe produzieren. Mit deinem Zeugungsapparat
kannſt du nicht Goethes Fauſt übertragen. Du kannſt ein Kind
damit machen, aber dieſes Kind bleibt ein Tier, wenn du ihm
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/314>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.