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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Vielfältig wie die Entwickelungsbahnen selbst, sind auch
seine proteisch wechselnden Formen, immer aber bezeichnet er
den Sonnenstand der Art: ob sie noch aufsteigt oder schon
sinkt. Einseitigkeit, Übertreibung, Degeneration, Erstarrung,
das alles sind nur Gesichter des einen Dämons. Hekatomben
ausgestorbener Arten liegen bereits als seine Opfer in den
Gesteinsschichten des Erdenschoßes, gefressen eines Tages von
ihrer Nacht, weil die Sonne der Fortentwickelung für sie unter¬
ging. Wohin du heute siehst im Tier- und Pflanzenleben, siehst
du die Gezeichneten schon, die nachstürzen werden. Die zu eng
Angepaßten, die lebendig Versteinten, die wandelnden Automaten,
die keiner Umbildung mehr fähig sind, die paradoxen Phantasten,
die sich in ein Extrem verstiegen haben, -- Todgeweihte sie alle.

Nur eine Lebensform dieses Planeten giebt es, die bis¬
heran ihren Schatten immer mehr besiegt hat, -- du selbst,
der Mensch. Er ist der große Zenitwanderer hier unten.

Diese wachsende Überwindung, so deutlich vor Augen im
ganzen Gang der Kulturgeschichte, in jeder neuen Erfindung,
jeder wissenschaftlichen, ästhetischen und ethischen That, ist das
Tröstliche im Labyrint auch dieser Menschengänge. Im übrigen
hast du hinter dir und neben dir thatsächlich des Schattens
noch genug. Vom ersten Tage an ein Riese, hat der Mensch
auch einen Riesenschatten von sich gestreckt. Er streift auch
durch sein Liebesleben. Schon haben wir ihn ein paar mal
auf unsern Wegen jetzt durchkreuzt. Aber ihm gebührt noch
ein besonderer fester Blick.

Du kennst die Geschichte des Phaethon. Sie ist nicht
bloß ein lustiges ovidisches Märchen. Wie alle diese alten
Völkersagen, die Extrakt tiefsten Erlebens sind, enthält sie ein
wunderbares Symbol.

Phaethon ist der erste Mensch, der mit Menschenkraft
die Natur meistern will. Seit Äonen rollen die Gestirne ihre
Bahn, im Bann von Gesetzen, die eine Weltschicht tiefer liegen
als der Mensch. Aber eines Tages steht dieser junge Mensch

Vielfältig wie die Entwickelungsbahnen ſelbſt, ſind auch
ſeine proteiſch wechſelnden Formen, immer aber bezeichnet er
den Sonnenſtand der Art: ob ſie noch aufſteigt oder ſchon
ſinkt. Einſeitigkeit, Übertreibung, Degeneration, Erſtarrung,
das alles ſind nur Geſichter des einen Dämons. Hekatomben
ausgeſtorbener Arten liegen bereits als ſeine Opfer in den
Geſteinsſchichten des Erdenſchoßes, gefreſſen eines Tages von
ihrer Nacht, weil die Sonne der Fortentwickelung für ſie unter¬
ging. Wohin du heute ſiehſt im Tier- und Pflanzenleben, ſiehſt
du die Gezeichneten ſchon, die nachſtürzen werden. Die zu eng
Angepaßten, die lebendig Verſteinten, die wandelnden Automaten,
die keiner Umbildung mehr fähig ſind, die paradoxen Phantaſten,
die ſich in ein Extrem verſtiegen haben, — Todgeweihte ſie alle.

Nur eine Lebensform dieſes Planeten giebt es, die bis¬
heran ihren Schatten immer mehr beſiegt hat, — du ſelbſt,
der Menſch. Er iſt der große Zenitwanderer hier unten.

Dieſe wachſende Überwindung, ſo deutlich vor Augen im
ganzen Gang der Kulturgeſchichte, in jeder neuen Erfindung,
jeder wiſſenſchaftlichen, äſthetiſchen und ethiſchen That, iſt das
Tröſtliche im Labyrint auch dieſer Menſchengänge. Im übrigen
haſt du hinter dir und neben dir thatſächlich des Schattens
noch genug. Vom erſten Tage an ein Rieſe, hat der Menſch
auch einen Rieſenſchatten von ſich geſtreckt. Er ſtreift auch
durch ſein Liebesleben. Schon haben wir ihn ein paar mal
auf unſern Wegen jetzt durchkreuzt. Aber ihm gebührt noch
ein beſonderer feſter Blick.

Du kennſt die Geſchichte des Phaethon. Sie iſt nicht
bloß ein luſtiges ovidiſches Märchen. Wie alle dieſe alten
Völkerſagen, die Extrakt tiefſten Erlebens ſind, enthält ſie ein
wunderbares Symbol.

Phaethon iſt der erſte Menſch, der mit Menſchenkraft
die Natur meiſtern will. Seit Äonen rollen die Geſtirne ihre
Bahn, im Bann von Geſetzen, die eine Weltſchicht tiefer liegen
als der Menſch. Aber eines Tages ſteht dieſer junge Menſch

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[306/0320] Vielfältig wie die Entwickelungsbahnen ſelbſt, ſind auch ſeine proteiſch wechſelnden Formen, immer aber bezeichnet er den Sonnenſtand der Art: ob ſie noch aufſteigt oder ſchon ſinkt. Einſeitigkeit, Übertreibung, Degeneration, Erſtarrung, das alles ſind nur Geſichter des einen Dämons. Hekatomben ausgeſtorbener Arten liegen bereits als ſeine Opfer in den Geſteinsſchichten des Erdenſchoßes, gefreſſen eines Tages von ihrer Nacht, weil die Sonne der Fortentwickelung für ſie unter¬ ging. Wohin du heute ſiehſt im Tier- und Pflanzenleben, ſiehſt du die Gezeichneten ſchon, die nachſtürzen werden. Die zu eng Angepaßten, die lebendig Verſteinten, die wandelnden Automaten, die keiner Umbildung mehr fähig ſind, die paradoxen Phantaſten, die ſich in ein Extrem verſtiegen haben, — Todgeweihte ſie alle. Nur eine Lebensform dieſes Planeten giebt es, die bis¬ heran ihren Schatten immer mehr beſiegt hat, — du ſelbſt, der Menſch. Er iſt der große Zenitwanderer hier unten. Dieſe wachſende Überwindung, ſo deutlich vor Augen im ganzen Gang der Kulturgeſchichte, in jeder neuen Erfindung, jeder wiſſenſchaftlichen, äſthetiſchen und ethiſchen That, iſt das Tröſtliche im Labyrint auch dieſer Menſchengänge. Im übrigen haſt du hinter dir und neben dir thatſächlich des Schattens noch genug. Vom erſten Tage an ein Rieſe, hat der Menſch auch einen Rieſenſchatten von ſich geſtreckt. Er ſtreift auch durch ſein Liebesleben. Schon haben wir ihn ein paar mal auf unſern Wegen jetzt durchkreuzt. Aber ihm gebührt noch ein beſonderer feſter Blick. Du kennſt die Geſchichte des Phaethon. Sie iſt nicht bloß ein luſtiges ovidiſches Märchen. Wie alle dieſe alten Völkerſagen, die Extrakt tiefſten Erlebens ſind, enthält ſie ein wunderbares Symbol. Phaethon iſt der erſte Menſch, der mit Menſchenkraft die Natur meiſtern will. Seit Äonen rollen die Geſtirne ihre Bahn, im Bann von Geſetzen, die eine Weltſchicht tiefer liegen als der Menſch. Aber eines Tages ſteht dieſer junge Menſch

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/320>, abgerufen am 21.11.2024.