Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

Auf einmal schleift der Schatten, der gefährliche Ent¬
wickelungsschatten, dir daher, -- riesengroß. Sieh fest hinein
und du siehst in seinem fahlen Halbdunkel einen gespenstischen
Zug. Die Liebe, ausgeliefert dem wilden Phantasieren des
Menschen. Phantasia, non homo, heißt ein altes Wort bei
Petronius. "Eine Phantasie, kein Mensch." Über dem ganzen
Zuge ragt ein riesenhaftes graues Kreuz, an dem ein schönes
Weib hängt. Die Liebe, gekreuzigt an der wild durchgehenden
Phantasie des Menschen. Das hatte kein Tier gewagt. Der
Maulwurf hatte geliebt, geliebt in alt eingeprägten Formen.
Aber kein Moment war in seinem Leben, da er nach eigenem
Klügeln losfahren wollte mit dieser Liebe wie Phaethon mit
dem Sonnenwagen. Da er sich fragte, was hinter dieser
Liebe vielleicht noch stecken könnte, als Mysterium, das man
irgendwie nötigen könnte, wenn man die Liebe mit tausend
tollen Dingen durchsetzte, selber ins Abstruseste nötigte ....

[Abbildung]

Da kommt das menstruierende Mädchen, -- eine Märtyrerin
des Phantasieschattens. Es kommt als Australierin. Blut rinnt
ihm aus dem Munde. Denn zur Feier seiner ersten Geschlechts¬
blutung hat man mit ihm die Operation Tschirrintschirri vor¬
genommen: ihm auch noch zwei Zähne ausgeschlagen. Es
dreht und wendet sich wunderlich und das nicht bloß vor
Schmerzen. Ihm ist heilig eingeschärft, daß es drei Tage lang
keines Mitmenschen Rücken sehen darf. Sonst schließt sich ihm
der Mund, daß es Hungers stirbt. Die beiden Zähne aber
bleiben ein Jahr lang in einem Futteral aus Straußfedern,
sonst wachsen dem Mädchen zwei so riesige nach und in den
Kopf hinein, daß es davon doch noch den Tod hat.

Dahinten der kleine Käfig, nur 6-8 Fuß hoch, mit dem
vergitterten Lichtloch wie ein Apparat zum Gänsemästen, stammt

Auf einmal ſchleift der Schatten, der gefährliche Ent¬
wickelungsſchatten, dir daher, — rieſengroß. Sieh feſt hinein
und du ſiehſt in ſeinem fahlen Halbdunkel einen geſpenſtiſchen
Zug. Die Liebe, ausgeliefert dem wilden Phantaſieren des
Menſchen. Phantasia, non homo, heißt ein altes Wort bei
Petronius. „Eine Phantaſie, kein Menſch.“ Über dem ganzen
Zuge ragt ein rieſenhaftes graues Kreuz, an dem ein ſchönes
Weib hängt. Die Liebe, gekreuzigt an der wild durchgehenden
Phantaſie des Menſchen. Das hatte kein Tier gewagt. Der
Maulwurf hatte geliebt, geliebt in alt eingeprägten Formen.
Aber kein Moment war in ſeinem Leben, da er nach eigenem
Klügeln losfahren wollte mit dieſer Liebe wie Phaethon mit
dem Sonnenwagen. Da er ſich fragte, was hinter dieſer
Liebe vielleicht noch ſtecken könnte, als Myſterium, das man
irgendwie nötigen könnte, wenn man die Liebe mit tauſend
tollen Dingen durchſetzte, ſelber ins Abſtruſeſte nötigte ....

[Abbildung]

Da kommt das menſtruierende Mädchen, — eine Märtyrerin
des Phantaſieſchattens. Es kommt als Auſtralierin. Blut rinnt
ihm aus dem Munde. Denn zur Feier ſeiner erſten Geſchlechts¬
blutung hat man mit ihm die Operation Tſchirrintſchirri vor¬
genommen: ihm auch noch zwei Zähne ausgeſchlagen. Es
dreht und wendet ſich wunderlich und das nicht bloß vor
Schmerzen. Ihm iſt heilig eingeſchärft, daß es drei Tage lang
keines Mitmenſchen Rücken ſehen darf. Sonſt ſchließt ſich ihm
der Mund, daß es Hungers ſtirbt. Die beiden Zähne aber
bleiben ein Jahr lang in einem Futteral aus Straußfedern,
ſonſt wachſen dem Mädchen zwei ſo rieſige nach und in den
Kopf hinein, daß es davon doch noch den Tod hat.

Dahinten der kleine Käfig, nur 6–8 Fuß hoch, mit dem
vergitterten Lichtloch wie ein Apparat zum Gänſemäſten, ſtammt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0324" n="310"/>
        <p>Auf einmal &#x017F;chleift der Schatten, der gefährliche Ent¬<lb/>
wickelungs&#x017F;chatten, dir daher, &#x2014; rie&#x017F;engroß. Sieh fe&#x017F;t hinein<lb/>
und du &#x017F;ieh&#x017F;t in &#x017F;einem fahlen Halbdunkel einen ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Zug. Die Liebe, ausgeliefert dem wilden Phanta&#x017F;ieren des<lb/>
Men&#x017F;chen. <hi rendition="#aq">Phantasia, non homo</hi>, heißt ein altes Wort bei<lb/>
Petronius. &#x201E;Eine Phanta&#x017F;ie, kein Men&#x017F;ch.&#x201C; Über dem ganzen<lb/>
Zuge ragt ein rie&#x017F;enhaftes graues Kreuz, an dem ein &#x017F;chönes<lb/>
Weib hängt. Die Liebe, gekreuzigt an der wild durchgehenden<lb/>
Phanta&#x017F;ie des Men&#x017F;chen. Das hatte kein Tier gewagt. Der<lb/>
Maulwurf hatte geliebt, geliebt in alt eingeprägten Formen.<lb/>
Aber kein Moment war in &#x017F;einem Leben, da er nach eigenem<lb/>
Klügeln losfahren wollte mit die&#x017F;er Liebe wie Phaethon mit<lb/>
dem Sonnenwagen. Da er &#x017F;ich fragte, was hinter die&#x017F;er<lb/>
Liebe vielleicht noch &#x017F;tecken könnte, als My&#x017F;terium, das man<lb/>
irgendwie nötigen könnte, wenn man die Liebe mit tau&#x017F;end<lb/>
tollen Dingen durch&#x017F;etzte, &#x017F;elber ins Ab&#x017F;tru&#x017F;e&#x017F;te nötigte ....</p><lb/>
        <figure/>
        <p>Da kommt das men&#x017F;truierende Mädchen, &#x2014; eine Märtyrerin<lb/>
des Phanta&#x017F;ie&#x017F;chattens. Es kommt als Au&#x017F;tralierin. Blut rinnt<lb/>
ihm aus dem Munde. Denn zur Feier &#x017F;einer er&#x017F;ten Ge&#x017F;chlechts¬<lb/>
blutung hat man mit ihm die Operation T&#x017F;chirrint&#x017F;chirri vor¬<lb/>
genommen: ihm auch noch zwei Zähne ausge&#x017F;chlagen. Es<lb/>
dreht und wendet &#x017F;ich wunderlich und das nicht bloß vor<lb/>
Schmerzen. Ihm i&#x017F;t heilig einge&#x017F;chärft, daß es drei Tage lang<lb/>
keines Mitmen&#x017F;chen Rücken &#x017F;ehen darf. Son&#x017F;t &#x017F;chließt &#x017F;ich ihm<lb/>
der Mund, daß es Hungers &#x017F;tirbt. Die beiden Zähne aber<lb/>
bleiben ein Jahr lang in einem Futteral aus Straußfedern,<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t wach&#x017F;en dem Mädchen zwei &#x017F;o rie&#x017F;ige nach und in den<lb/>
Kopf hinein, daß es davon doch noch den Tod hat.</p><lb/>
        <p>Dahinten der kleine Käfig, nur 6&#x2013;8 Fuß hoch, mit dem<lb/>
vergitterten Lichtloch wie ein Apparat zum Gän&#x017F;emä&#x017F;ten, &#x017F;tammt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[310/0324] Auf einmal ſchleift der Schatten, der gefährliche Ent¬ wickelungsſchatten, dir daher, — rieſengroß. Sieh feſt hinein und du ſiehſt in ſeinem fahlen Halbdunkel einen geſpenſtiſchen Zug. Die Liebe, ausgeliefert dem wilden Phantaſieren des Menſchen. Phantasia, non homo, heißt ein altes Wort bei Petronius. „Eine Phantaſie, kein Menſch.“ Über dem ganzen Zuge ragt ein rieſenhaftes graues Kreuz, an dem ein ſchönes Weib hängt. Die Liebe, gekreuzigt an der wild durchgehenden Phantaſie des Menſchen. Das hatte kein Tier gewagt. Der Maulwurf hatte geliebt, geliebt in alt eingeprägten Formen. Aber kein Moment war in ſeinem Leben, da er nach eigenem Klügeln losfahren wollte mit dieſer Liebe wie Phaethon mit dem Sonnenwagen. Da er ſich fragte, was hinter dieſer Liebe vielleicht noch ſtecken könnte, als Myſterium, das man irgendwie nötigen könnte, wenn man die Liebe mit tauſend tollen Dingen durchſetzte, ſelber ins Abſtruſeſte nötigte .... [Abbildung] Da kommt das menſtruierende Mädchen, — eine Märtyrerin des Phantaſieſchattens. Es kommt als Auſtralierin. Blut rinnt ihm aus dem Munde. Denn zur Feier ſeiner erſten Geſchlechts¬ blutung hat man mit ihm die Operation Tſchirrintſchirri vor¬ genommen: ihm auch noch zwei Zähne ausgeſchlagen. Es dreht und wendet ſich wunderlich und das nicht bloß vor Schmerzen. Ihm iſt heilig eingeſchärft, daß es drei Tage lang keines Mitmenſchen Rücken ſehen darf. Sonſt ſchließt ſich ihm der Mund, daß es Hungers ſtirbt. Die beiden Zähne aber bleiben ein Jahr lang in einem Futteral aus Straußfedern, ſonſt wachſen dem Mädchen zwei ſo rieſige nach und in den Kopf hinein, daß es davon doch noch den Tod hat. Dahinten der kleine Käfig, nur 6–8 Fuß hoch, mit dem vergitterten Lichtloch wie ein Apparat zum Gänſemäſten, ſtammt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/324
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/324>, abgerufen am 21.11.2024.