Sack aus Birkenrinde sammeln. Ein Jahr lang hat sie den beständig auf dem Rücken zu tragen. Auch danach aber ist ihre Pein noch nicht zu Ende. Noch jahrelang ist sie die ärmste Sklavin aller anderen Frauen im Stamm, vogelfrei für Prügel. Furchtbar ist ihre Strafe, wenn sie nicht mit den Fingern jedes Unkräutlein von der Stelle jätet, wo der Rest der Gattenasche bestattet liegt. Und erst im vierten Jahr schlägt ihre Befreiungsstunde. Nun giebt's ein großes Fest. Zum letztenmal erscheint sie mit den Knochen huckepack. Man nimmt sie ihr, nagelt sie in eine neue Kiste und hängt sie auf einen hohen Pfosten. Dann wird Gericht gehalten, ob die Witwe treu war. Hat sie auch das bestanden, so salbt der Häuptling ihr zum erstenmal wieder das Haupt mit Öl und schmückt sie mit Vogelfedern: nun darf sie wieder heiraten.
Auch dort die Andamanen-Insulanerin schreitet daher, als helfe sie beim Umzug in einer Anatomie. Von ihrer linken Schulter grinst über ihren nackten Brüsten ein Totenschädel, grellrot bemalt und mit Franzen aus Holzfasern verziert. Es ist der Schädel ihres Mannes, den die Witwe so lange auf der nackten Haut tragen muß, bis sie sich wieder vermählt.
Das nächste Bild scheint lustiger. Das Tamtam rasselt, bunte Gewänder wehen, eine prächtige Hochzeitssänfte naht. Das ist China. Aber auch hinter dieser Hochzeit steht un¬ heimlich der Tod. Zwei Menschen werden noch nach ihrem Tode vermählt. Beide sind früh gestorben, als Kinder schon. Da naht nach der rechten Reihe der Jahre die Zeit, da sie heiraten müßten. Und alsbald gehen die Eltern daran, als sei durch den Tod nichts geändert. Ein Heiratsvermittler wird berufen, er macht zu jedem Knaben eine Reihe gleich¬ altriger, "gleichtoter" Mädchen ausfindig und umgekehrt. Die engere Wahl bestimmt das Horoskop der Astrologen. Eine "Glücksnacht" wird zur Hochzeit ausgesucht. Am Abend jetzt wird im Ceremoniensaale bei den Eltern des Bräutigams eine Papierpuppe des Toten im Hochzeitskostüm auf einen Stuhl
Sack aus Birkenrinde ſammeln. Ein Jahr lang hat ſie den beſtändig auf dem Rücken zu tragen. Auch danach aber iſt ihre Pein noch nicht zu Ende. Noch jahrelang iſt ſie die ärmſte Sklavin aller anderen Frauen im Stamm, vogelfrei für Prügel. Furchtbar iſt ihre Strafe, wenn ſie nicht mit den Fingern jedes Unkräutlein von der Stelle jätet, wo der Reſt der Gattenaſche beſtattet liegt. Und erſt im vierten Jahr ſchlägt ihre Befreiungsſtunde. Nun giebt's ein großes Feſt. Zum letztenmal erſcheint ſie mit den Knochen huckepack. Man nimmt ſie ihr, nagelt ſie in eine neue Kiſte und hängt ſie auf einen hohen Pfoſten. Dann wird Gericht gehalten, ob die Witwe treu war. Hat ſie auch das beſtanden, ſo ſalbt der Häuptling ihr zum erſtenmal wieder das Haupt mit Öl und ſchmückt ſie mit Vogelfedern: nun darf ſie wieder heiraten.
Auch dort die Andamanen-Inſulanerin ſchreitet daher, als helfe ſie beim Umzug in einer Anatomie. Von ihrer linken Schulter grinſt über ihren nackten Brüſten ein Totenſchädel, grellrot bemalt und mit Franzen aus Holzfaſern verziert. Es iſt der Schädel ihres Mannes, den die Witwe ſo lange auf der nackten Haut tragen muß, bis ſie ſich wieder vermählt.
Das nächſte Bild ſcheint luſtiger. Das Tamtam raſſelt, bunte Gewänder wehen, eine prächtige Hochzeitsſänfte naht. Das iſt China. Aber auch hinter dieſer Hochzeit ſteht un¬ heimlich der Tod. Zwei Menſchen werden noch nach ihrem Tode vermählt. Beide ſind früh geſtorben, als Kinder ſchon. Da naht nach der rechten Reihe der Jahre die Zeit, da ſie heiraten müßten. Und alsbald gehen die Eltern daran, als ſei durch den Tod nichts geändert. Ein Heiratsvermittler wird berufen, er macht zu jedem Knaben eine Reihe gleich¬ altriger, „gleichtoter“ Mädchen ausfindig und umgekehrt. Die engere Wahl beſtimmt das Horoſkop der Aſtrologen. Eine „Glücksnacht“ wird zur Hochzeit ausgeſucht. Am Abend jetzt wird im Ceremonienſaale bei den Eltern des Bräutigams eine Papierpuppe des Toten im Hochzeitskoſtüm auf einen Stuhl
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Sack aus Birkenrinde ſammeln. Ein Jahr lang hat ſie den
beſtändig auf dem Rücken zu tragen. Auch danach aber iſt
ihre Pein noch nicht zu Ende. Noch jahrelang iſt ſie die
ärmſte Sklavin aller anderen Frauen im Stamm, vogelfrei
für Prügel. Furchtbar iſt ihre Strafe, wenn ſie nicht mit den
Fingern jedes Unkräutlein von der Stelle jätet, wo der Reſt
der Gattenaſche beſtattet liegt. Und erſt im vierten Jahr
ſchlägt ihre Befreiungsſtunde. Nun giebt's ein großes Feſt.
Zum letztenmal erſcheint ſie mit den Knochen huckepack. Man
nimmt ſie ihr, nagelt ſie in eine neue Kiſte und hängt ſie
auf einen hohen Pfoſten. Dann wird Gericht gehalten, ob die
Witwe treu war. Hat ſie auch das beſtanden, ſo ſalbt der
Häuptling ihr zum erſtenmal wieder das Haupt mit Öl und
ſchmückt ſie mit Vogelfedern: nun darf ſie wieder heiraten.
Auch dort die Andamanen-Inſulanerin ſchreitet daher, als
helfe ſie beim Umzug in einer Anatomie. Von ihrer linken
Schulter grinſt über ihren nackten Brüſten ein Totenſchädel,
grellrot bemalt und mit Franzen aus Holzfaſern verziert.
Es iſt der Schädel ihres Mannes, den die Witwe ſo lange
auf der nackten Haut tragen muß, bis ſie ſich wieder vermählt.
Das nächſte Bild ſcheint luſtiger. Das Tamtam raſſelt,
bunte Gewänder wehen, eine prächtige Hochzeitsſänfte naht.
Das iſt China. Aber auch hinter dieſer Hochzeit ſteht un¬
heimlich der Tod. Zwei Menſchen werden noch nach ihrem
Tode vermählt. Beide ſind früh geſtorben, als Kinder ſchon.
Da naht nach der rechten Reihe der Jahre die Zeit, da ſie
heiraten müßten. Und alsbald gehen die Eltern daran, als
ſei durch den Tod nichts geändert. Ein Heiratsvermittler
wird berufen, er macht zu jedem Knaben eine Reihe gleich¬
altriger, „gleichtoter“ Mädchen ausfindig und umgekehrt. Die
engere Wahl beſtimmt das Horoſkop der Aſtrologen. Eine
„Glücksnacht“ wird zur Hochzeit ausgeſucht. Am Abend jetzt
wird im Ceremonienſaale bei den Eltern des Bräutigams eine
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/344>, abgerufen am 21.11.2024.
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