Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

Noch ist er dir ja nah genug. Um dich her hast du
tausende von Menschen, die sich auch Kulturmenschen nennen
und die doch heute noch neben dir gegebenen Falles sehr in
Zweifel sein werden, ob die einfachen Regeln moderner Hygiene
wichtiger seien etwa für das Wohl einer Wöchnerin -- oder
ein Fledermausknöchelchen, mystisch in ihr Kopfkissen vernäht.
Aber das ist die Menschheit, von der ich dir früher einmal
sagte, daß es für sie noch keine Frage giebt, ob der Mensch
vom Affen abstammt, weil sie noch gar nicht "abstammt",
sondern noch "ist". Diese Masse ist nicht das entscheidende.
Den Ausschlag geben die paar Gerechten wie im Märchen von
Gomorra. Diese drei Gerechten haben eine Hygiene, eine
wissenschaftliche Zeugungslehre und Embryologie geschaffen, eine
Wissenschaft an Stelle der Phantasiezüge. Sie haben erkannt,
daß auch der Sonnenwagen der Liebe auf den Rädern tiefer
Naturgesetze fährt.

Gewiß stehen wir auch hier erst bei den Anfängen einer
Wissenschaft. Aber wir stehen bei diesen Anfängen. Im
Moment, da der Blick zum erstenmal eingetaucht ist in diese
wahren Mysterien der Zellenlehre, des Verhältnisses von
Samentierchen und Eizelle, da zum erstenmal ein kleines Licht¬
band sich ihm aufgehellt hat in das geschichtliche Werden des
ganzen Liebesapparates auch in uns: in dem Moment hat der
Genius der Menschheit thatsächlich sein Entwickelungsgespenst
nach dieser Seite besiegt.

Phaeton fährt noch nicht auf dem wirklichen Sonnen¬
wagen. Wir fahren ja auch noch nicht mit Orionsternen, weil
wir das erste A-B-C des Gravitationsgesetzes erkannt haben.
Wie ein ferner blauer Traum liegt es uns noch im Weiten:
daß unsere Wissenschaft auch im Liebesleben aus einem Er¬
kennen einst ein Meistern werde; daß wir nicht mit Tamtam¬
schlagen, sondern mit besonnener Forscherweisheit eingreifen
könnten in die wirkliche innere Sonnenbahn dieser Dinge; die
Zeugung lossteuern könnten in noch unendlich vervollkommnetere

Noch iſt er dir ja nah genug. Um dich her haſt du
tauſende von Menſchen, die ſich auch Kulturmenſchen nennen
und die doch heute noch neben dir gegebenen Falles ſehr in
Zweifel ſein werden, ob die einfachen Regeln moderner Hygiene
wichtiger ſeien etwa für das Wohl einer Wöchnerin — oder
ein Fledermausknöchelchen, myſtiſch in ihr Kopfkiſſen vernäht.
Aber das iſt die Menſchheit, von der ich dir früher einmal
ſagte, daß es für ſie noch keine Frage giebt, ob der Menſch
vom Affen abſtammt, weil ſie noch gar nicht „abſtammt“,
ſondern noch „iſt“. Dieſe Maſſe iſt nicht das entſcheidende.
Den Ausſchlag geben die paar Gerechten wie im Märchen von
Gomorra. Dieſe drei Gerechten haben eine Hygiene, eine
wiſſenſchaftliche Zeugungslehre und Embryologie geſchaffen, eine
Wiſſenſchaft an Stelle der Phantaſiezüge. Sie haben erkannt,
daß auch der Sonnenwagen der Liebe auf den Rädern tiefer
Naturgeſetze fährt.

Gewiß ſtehen wir auch hier erſt bei den Anfängen einer
Wiſſenſchaft. Aber wir ſtehen bei dieſen Anfängen. Im
Moment, da der Blick zum erſtenmal eingetaucht iſt in dieſe
wahren Myſterien der Zellenlehre, des Verhältniſſes von
Samentierchen und Eizelle, da zum erſtenmal ein kleines Licht¬
band ſich ihm aufgehellt hat in das geſchichtliche Werden des
ganzen Liebesapparates auch in uns: in dem Moment hat der
Genius der Menſchheit thatſächlich ſein Entwickelungsgeſpenſt
nach dieſer Seite beſiegt.

Phaeton fährt noch nicht auf dem wirklichen Sonnen¬
wagen. Wir fahren ja auch noch nicht mit Orionſternen, weil
wir das erſte A-B-C des Gravitationsgeſetzes erkannt haben.
Wie ein ferner blauer Traum liegt es uns noch im Weiten:
daß unſere Wiſſenſchaft auch im Liebesleben aus einem Er¬
kennen einſt ein Meiſtern werde; daß wir nicht mit Tamtam¬
ſchlagen, ſondern mit beſonnener Forſcherweisheit eingreifen
könnten in die wirkliche innere Sonnenbahn dieſer Dinge; die
Zeugung losſteuern könnten in noch unendlich vervollkommnetere

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0346" n="332"/>
        <p>Noch i&#x017F;t er dir ja nah genug. Um dich her ha&#x017F;t du<lb/>
tau&#x017F;ende von Men&#x017F;chen, die &#x017F;ich auch Kulturmen&#x017F;chen nennen<lb/>
und die doch heute noch neben dir gegebenen Falles &#x017F;ehr in<lb/>
Zweifel &#x017F;ein werden, ob die einfachen Regeln moderner Hygiene<lb/>
wichtiger &#x017F;eien etwa für das Wohl einer Wöchnerin &#x2014; oder<lb/>
ein Fledermausknöchelchen, my&#x017F;ti&#x017F;ch in ihr Kopfki&#x017F;&#x017F;en vernäht.<lb/>
Aber das i&#x017F;t die Men&#x017F;chheit, von der ich dir früher einmal<lb/>
&#x017F;agte, daß es für &#x017F;ie noch keine Frage giebt, ob der Men&#x017F;ch<lb/>
vom Affen ab&#x017F;tammt, weil &#x017F;ie noch gar nicht &#x201E;ab&#x017F;tammt&#x201C;,<lb/>
&#x017F;ondern noch &#x201E;i&#x017F;t&#x201C;. Die&#x017F;e Ma&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t nicht das ent&#x017F;cheidende.<lb/>
Den Aus&#x017F;chlag geben die paar Gerechten wie im Märchen von<lb/>
Gomorra. Die&#x017F;e drei Gerechten haben eine Hygiene, eine<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Zeugungslehre und Embryologie ge&#x017F;chaffen, eine<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft an Stelle der Phanta&#x017F;iezüge. Sie haben erkannt,<lb/>
daß auch der Sonnenwagen der Liebe auf den Rädern tiefer<lb/>
Naturge&#x017F;etze fährt.</p><lb/>
        <p>Gewiß &#x017F;tehen wir auch hier er&#x017F;t bei den <hi rendition="#g">Anfängen</hi> einer<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft. Aber wir <hi rendition="#g">&#x017F;tehen</hi> bei die&#x017F;en Anfängen. Im<lb/>
Moment, da der Blick zum er&#x017F;tenmal eingetaucht i&#x017F;t in die&#x017F;e<lb/>
wahren My&#x017F;terien der Zellenlehre, des Verhältni&#x017F;&#x017F;es von<lb/>
Samentierchen und Eizelle, da zum er&#x017F;tenmal ein kleines Licht¬<lb/>
band &#x017F;ich ihm aufgehellt hat in das ge&#x017F;chichtliche Werden des<lb/>
ganzen Liebesapparates auch in uns: in dem Moment hat der<lb/>
Genius der Men&#x017F;chheit that&#x017F;ächlich &#x017F;ein Entwickelungsge&#x017F;pen&#x017F;t<lb/>
nach die&#x017F;er Seite <hi rendition="#g">be&#x017F;iegt</hi>.</p><lb/>
        <p>Phaeton fährt noch nicht auf dem wirklichen Sonnen¬<lb/>
wagen. Wir fahren ja auch noch nicht mit Orion&#x017F;ternen, weil<lb/>
wir das er&#x017F;te A-B-C des Gravitationsge&#x017F;etzes erkannt haben.<lb/>
Wie ein ferner blauer Traum liegt es uns noch im Weiten:<lb/>
daß un&#x017F;ere Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft auch im Liebesleben aus einem Er¬<lb/>
kennen ein&#x017F;t ein Mei&#x017F;tern werde; daß wir nicht mit Tamtam¬<lb/>
&#x017F;chlagen, &#x017F;ondern mit be&#x017F;onnener For&#x017F;cherweisheit eingreifen<lb/>
könnten in die wirkliche innere Sonnenbahn die&#x017F;er Dinge; die<lb/>
Zeugung los&#x017F;teuern könnten in noch unendlich vervollkommnetere<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[332/0346] Noch iſt er dir ja nah genug. Um dich her haſt du tauſende von Menſchen, die ſich auch Kulturmenſchen nennen und die doch heute noch neben dir gegebenen Falles ſehr in Zweifel ſein werden, ob die einfachen Regeln moderner Hygiene wichtiger ſeien etwa für das Wohl einer Wöchnerin — oder ein Fledermausknöchelchen, myſtiſch in ihr Kopfkiſſen vernäht. Aber das iſt die Menſchheit, von der ich dir früher einmal ſagte, daß es für ſie noch keine Frage giebt, ob der Menſch vom Affen abſtammt, weil ſie noch gar nicht „abſtammt“, ſondern noch „iſt“. Dieſe Maſſe iſt nicht das entſcheidende. Den Ausſchlag geben die paar Gerechten wie im Märchen von Gomorra. Dieſe drei Gerechten haben eine Hygiene, eine wiſſenſchaftliche Zeugungslehre und Embryologie geſchaffen, eine Wiſſenſchaft an Stelle der Phantaſiezüge. Sie haben erkannt, daß auch der Sonnenwagen der Liebe auf den Rädern tiefer Naturgeſetze fährt. Gewiß ſtehen wir auch hier erſt bei den Anfängen einer Wiſſenſchaft. Aber wir ſtehen bei dieſen Anfängen. Im Moment, da der Blick zum erſtenmal eingetaucht iſt in dieſe wahren Myſterien der Zellenlehre, des Verhältniſſes von Samentierchen und Eizelle, da zum erſtenmal ein kleines Licht¬ band ſich ihm aufgehellt hat in das geſchichtliche Werden des ganzen Liebesapparates auch in uns: in dem Moment hat der Genius der Menſchheit thatſächlich ſein Entwickelungsgeſpenſt nach dieſer Seite beſiegt. Phaeton fährt noch nicht auf dem wirklichen Sonnen¬ wagen. Wir fahren ja auch noch nicht mit Orionſternen, weil wir das erſte A-B-C des Gravitationsgeſetzes erkannt haben. Wie ein ferner blauer Traum liegt es uns noch im Weiten: daß unſere Wiſſenſchaft auch im Liebesleben aus einem Er¬ kennen einſt ein Meiſtern werde; daß wir nicht mit Tamtam¬ ſchlagen, ſondern mit beſonnener Forſcherweisheit eingreifen könnten in die wirkliche innere Sonnenbahn dieſer Dinge; die Zeugung losſteuern könnten in noch unendlich vervollkommnetere

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/346
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/346>, abgerufen am 21.11.2024.