Die Menschheit ist ein Fluch, ein Unsinn. Besser sie stirbt, so rasch sie kann. Muß sie leben, so ist's nur ewig erneute Qual. Ich wenigstens werde nichts dazu thun. Nicht im Katzenjammer der Orgien sage ich's. Nüchtern wie dieses graue Häusermeer da draußen, das so viel Qual konzentriert. Aber doch: Fluch der Liebe!
[Abbildung]
In beiden Fällen ist es des Menschen Tiefstes, was die Liebe verneint: seine Weltanschauung. Die Liebe erscheint in ihrer äußersten ideellen Zuspitzung plötzlich geprägt in ein Wort. Dieses Wort heißt Weltbejahung. Aus jener Philo¬ sophie aber klingt ihm das andere Wort entgegen: Welt¬ verneinung. Das ist der letzte, aber auch der höchste Gegensatz.
Weltanschauung ist der höchste Wert der Menschheit. Mit ihr löst sich endgültig der Mensch vom Tier. Dieser Begriff ist die Mündigkeitserklärung des Menschen. Mit ihm tritt er in die Weltherrschaft ein. Er wird aus einem Untergebenen ein freier Bürger. Bisher hat er gelebt, weil es so über¬ kommen war. Fortan lebt er, weil er will. Der Mensch, der eine Weltanschauung gewinnt und sein Leben danach ein¬ richtet, steht da, als rauschten die Paradiesbäume vor ihm auseinander; du willst, -- gut, so gehe; da liegt das weite Ackerfeld; nimm selber deine Wegleitung in die Hand, sei ein freier Mann, suche; es ist nicht immer lustig, frei und ein Mann zu sein, im Storchteich liegt sichs behaglicher; aber dafür wirst du die ungeheure Genugthuung haben, deine Siege fortan dir zu verdanken, dir, dem Sehenden, Selbstsuchenden.
Dieser Mensch, aus dem Paradies entlassen, war aber erst ein kleines Stückchen durch die alten Dornen mit dem neuen Gesicht gegangen, da stand er vor dem bedeutsamsten Kreuzweg.
Die Menſchheit iſt ein Fluch, ein Unſinn. Beſſer ſie ſtirbt, ſo raſch ſie kann. Muß ſie leben, ſo iſt's nur ewig erneute Qual. Ich wenigſtens werde nichts dazu thun. Nicht im Katzenjammer der Orgien ſage ich's. Nüchtern wie dieſes graue Häuſermeer da draußen, das ſo viel Qual konzentriert. Aber doch: Fluch der Liebe!
[Abbildung]
In beiden Fällen iſt es des Menſchen Tiefſtes, was die Liebe verneint: ſeine Weltanſchauung. Die Liebe erſcheint in ihrer äußerſten ideellen Zuſpitzung plötzlich geprägt in ein Wort. Dieſes Wort heißt Weltbejahung. Aus jener Philo¬ ſophie aber klingt ihm das andere Wort entgegen: Welt¬ verneinung. Das iſt der letzte, aber auch der höchſte Gegenſatz.
Weltanſchauung iſt der höchſte Wert der Menſchheit. Mit ihr löſt ſich endgültig der Menſch vom Tier. Dieſer Begriff iſt die Mündigkeitserklärung des Menſchen. Mit ihm tritt er in die Weltherrſchaft ein. Er wird aus einem Untergebenen ein freier Bürger. Bisher hat er gelebt, weil es ſo über¬ kommen war. Fortan lebt er, weil er will. Der Menſch, der eine Weltanſchauung gewinnt und ſein Leben danach ein¬ richtet, ſteht da, als rauſchten die Paradiesbäume vor ihm auseinander; du willſt, — gut, ſo gehe; da liegt das weite Ackerfeld; nimm ſelber deine Wegleitung in die Hand, ſei ein freier Mann, ſuche; es iſt nicht immer luſtig, frei und ein Mann zu ſein, im Storchteich liegt ſichs behaglicher; aber dafür wirſt du die ungeheure Genugthuung haben, deine Siege fortan dir zu verdanken, dir, dem Sehenden, Selbſtſuchenden.
Dieſer Menſch, aus dem Paradies entlaſſen, war aber erſt ein kleines Stückchen durch die alten Dornen mit dem neuen Geſicht gegangen, da ſtand er vor dem bedeutſamſten Kreuzweg.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0370"n="356"/>
Die Menſchheit iſt ein Fluch, ein Unſinn. Beſſer ſie ſtirbt,<lb/>ſo raſch ſie kann. Muß ſie leben, ſo iſt's nur ewig erneute<lb/>
Qual. Ich wenigſtens werde nichts dazu thun. Nicht im<lb/>
Katzenjammer der Orgien ſage ich's. Nüchtern wie dieſes<lb/>
graue Häuſermeer da draußen, das ſo viel Qual konzentriert.<lb/>
Aber doch: Fluch der Liebe!</p><lb/><figure/><p>In beiden Fällen iſt es des Menſchen Tiefſtes, was die<lb/>
Liebe verneint: ſeine Weltanſchauung. Die Liebe erſcheint in<lb/>
ihrer äußerſten ideellen Zuſpitzung plötzlich geprägt in <hirendition="#g">ein</hi><lb/>
Wort. Dieſes Wort heißt Weltbejahung. Aus jener Philo¬<lb/>ſophie aber klingt ihm das andere Wort entgegen: Welt¬<lb/>
verneinung. Das iſt der letzte, aber auch der höchſte Gegenſatz.</p><lb/><p>Weltanſchauung iſt der höchſte Wert der Menſchheit. Mit<lb/>
ihr löſt ſich endgültig der Menſch vom Tier. Dieſer Begriff<lb/>
iſt die Mündigkeitserklärung des Menſchen. Mit ihm tritt er<lb/>
in die Weltherrſchaft ein. Er wird aus einem Untergebenen<lb/>
ein freier Bürger. Bisher hat er gelebt, weil es ſo über¬<lb/>
kommen war. Fortan lebt er, weil er will. Der Menſch,<lb/>
der eine Weltanſchauung gewinnt und ſein Leben danach ein¬<lb/>
richtet, ſteht da, als rauſchten die Paradiesbäume vor ihm<lb/>
auseinander; du willſt, — gut, ſo gehe; da liegt das weite<lb/>
Ackerfeld; nimm ſelber deine Wegleitung in die Hand, ſei ein<lb/>
freier Mann, ſuche; es iſt nicht immer luſtig, frei und ein<lb/>
Mann zu ſein, im Storchteich liegt ſichs behaglicher; aber dafür<lb/>
wirſt du die ungeheure Genugthuung haben, deine Siege fortan<lb/>
dir zu verdanken, dir, dem Sehenden, Selbſtſuchenden.</p><lb/><p>Dieſer Menſch, aus dem Paradies entlaſſen, war aber erſt<lb/>
ein kleines Stückchen durch die alten Dornen mit dem neuen<lb/>
Geſicht gegangen, da ſtand er vor dem bedeutſamſten Kreuzweg.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[356/0370]
Die Menſchheit iſt ein Fluch, ein Unſinn. Beſſer ſie ſtirbt,
ſo raſch ſie kann. Muß ſie leben, ſo iſt's nur ewig erneute
Qual. Ich wenigſtens werde nichts dazu thun. Nicht im
Katzenjammer der Orgien ſage ich's. Nüchtern wie dieſes
graue Häuſermeer da draußen, das ſo viel Qual konzentriert.
Aber doch: Fluch der Liebe!
[Abbildung]
In beiden Fällen iſt es des Menſchen Tiefſtes, was die
Liebe verneint: ſeine Weltanſchauung. Die Liebe erſcheint in
ihrer äußerſten ideellen Zuſpitzung plötzlich geprägt in ein
Wort. Dieſes Wort heißt Weltbejahung. Aus jener Philo¬
ſophie aber klingt ihm das andere Wort entgegen: Welt¬
verneinung. Das iſt der letzte, aber auch der höchſte Gegenſatz.
Weltanſchauung iſt der höchſte Wert der Menſchheit. Mit
ihr löſt ſich endgültig der Menſch vom Tier. Dieſer Begriff
iſt die Mündigkeitserklärung des Menſchen. Mit ihm tritt er
in die Weltherrſchaft ein. Er wird aus einem Untergebenen
ein freier Bürger. Bisher hat er gelebt, weil es ſo über¬
kommen war. Fortan lebt er, weil er will. Der Menſch,
der eine Weltanſchauung gewinnt und ſein Leben danach ein¬
richtet, ſteht da, als rauſchten die Paradiesbäume vor ihm
auseinander; du willſt, — gut, ſo gehe; da liegt das weite
Ackerfeld; nimm ſelber deine Wegleitung in die Hand, ſei ein
freier Mann, ſuche; es iſt nicht immer luſtig, frei und ein
Mann zu ſein, im Storchteich liegt ſichs behaglicher; aber dafür
wirſt du die ungeheure Genugthuung haben, deine Siege fortan
dir zu verdanken, dir, dem Sehenden, Selbſtſuchenden.
Dieſer Menſch, aus dem Paradies entlaſſen, war aber erſt
ein kleines Stückchen durch die alten Dornen mit dem neuen
Geſicht gegangen, da ſtand er vor dem bedeutſamſten Kreuzweg.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/370>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.