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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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In dem kleinen Stückchen Naturthat, das wir kennen,
vom Nebelfleck zum Menschen, ist eine ganz deutliche Linie,
die das alte starre Gesetz "Auge um Auge, Zahn um Zahn,"
das im Innern bloß das einfache Kausalitätsgesetz ist, gleiche
Ursachen, gleiche Wirkungen, aufzuheben sucht in das Höhere
hinein: Liebe, vergieb, merze alle schlechten Dinge aus nicht
wieder durch Schlechtes, sondern durch das Gute. Auf ihrer
Ichthyosaurusstufe hat die Natur davon noch nichts gehabt.
Auf ihrer Christusstufe hat sie es gepredigt. Warum soll sie
es nicht in Äonen der Zukunft, mit Wesen, denen Sterne
vielleicht nur Wegsteine sind, wirklich durchsetzen?

Und es ist richtig, daß dieses ewige Liebesgesetz nur ganz
Genüge fände, wenn es auch rückwirkende Kraft erhielte in die
Vergangenheit hinein. Aber soll diese Natur, die mit unsern
kleinen Menschenaugen schon anfängt, in die Vergangenheit
über Jahrmillionen fort zu blicken, Gestalten, Umrisse dort
wieder zu erkennen, soll diese Natur nicht auf solchen Stufen
Macht haben, sich selbst da unten wieder zu erwecken, sich rück¬
wärts von Kreatur zu Kreatur noch einmal aufzurollen --
und zu erlösen?

Wohlan, du hast von mir verlangt, daß ich in die Zukunft
träume, -- träume, hörst du? Aber ich wollte dir wenigstens
beweisen, daß ich das auch optimistisch kann, wenn du dich ver¬
mißt, als Pessimist bis ins graue Weltende hineinzuphantasieren.

Es ist nichts wahrlich in der Naturforschung, das solchen
Möglichkeiten widerspräche, -- Idealerfüllungen, die sich in
einer unbegrenzten Entwickelungslinie genau so gut einstellen
könnten, wie sich schon in den paar Jahrtausenden menschlichen
Heraufgangs kleine Ideale in Masse erfüllt haben.

Setze hinter den einfachen Gedanken der Liebe zum Nächsten,
der nach so viel Sonnen, Urzellen, Ichthyosaurieren plötzlich
bei ein paar Menschen da ist als innerste Stimme der Natur,
setze dahinter die Äonen der Zukunft, in denen die Naturkraft
nie stirbt, sondern nur höher und höher die Dinge gipfelt, die

In dem kleinen Stückchen Naturthat, das wir kennen,
vom Nebelfleck zum Menſchen, iſt eine ganz deutliche Linie,
die das alte ſtarre Geſetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn,“
das im Innern bloß das einfache Kauſalitätsgeſetz iſt, gleiche
Urſachen, gleiche Wirkungen, aufzuheben ſucht in das Höhere
hinein: Liebe, vergieb, merze alle ſchlechten Dinge aus nicht
wieder durch Schlechtes, ſondern durch das Gute. Auf ihrer
Ichthyoſaurusſtufe hat die Natur davon noch nichts gehabt.
Auf ihrer Chriſtusſtufe hat ſie es gepredigt. Warum ſoll ſie
es nicht in Äonen der Zukunft, mit Weſen, denen Sterne
vielleicht nur Wegſteine ſind, wirklich durchſetzen?

Und es iſt richtig, daß dieſes ewige Liebesgeſetz nur ganz
Genüge fände, wenn es auch rückwirkende Kraft erhielte in die
Vergangenheit hinein. Aber ſoll dieſe Natur, die mit unſern
kleinen Menſchenaugen ſchon anfängt, in die Vergangenheit
über Jahrmillionen fort zu blicken, Geſtalten, Umriſſe dort
wieder zu erkennen, ſoll dieſe Natur nicht auf ſolchen Stufen
Macht haben, ſich ſelbſt da unten wieder zu erwecken, ſich rück¬
wärts von Kreatur zu Kreatur noch einmal aufzurollen —
und zu erlöſen?

Wohlan, du haſt von mir verlangt, daß ich in die Zukunft
träume, — träume, hörſt du? Aber ich wollte dir wenigſtens
beweiſen, daß ich das auch optimiſtiſch kann, wenn du dich ver¬
mißt, als Peſſimiſt bis ins graue Weltende hineinzuphantaſieren.

Es iſt nichts wahrlich in der Naturforſchung, das ſolchen
Möglichkeiten widerſpräche, — Idealerfüllungen, die ſich in
einer unbegrenzten Entwickelungslinie genau ſo gut einſtellen
könnten, wie ſich ſchon in den paar Jahrtauſenden menſchlichen
Heraufgangs kleine Ideale in Maſſe erfüllt haben.

Setze hinter den einfachen Gedanken der Liebe zum Nächſten,
der nach ſo viel Sonnen, Urzellen, Ichthyoſaurieren plötzlich
bei ein paar Menſchen da iſt als innerſte Stimme der Natur,
ſetze dahinter die Äonen der Zukunft, in denen die Naturkraft
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[372/0386] In dem kleinen Stückchen Naturthat, das wir kennen, vom Nebelfleck zum Menſchen, iſt eine ganz deutliche Linie, die das alte ſtarre Geſetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn,“ das im Innern bloß das einfache Kauſalitätsgeſetz iſt, gleiche Urſachen, gleiche Wirkungen, aufzuheben ſucht in das Höhere hinein: Liebe, vergieb, merze alle ſchlechten Dinge aus nicht wieder durch Schlechtes, ſondern durch das Gute. Auf ihrer Ichthyoſaurusſtufe hat die Natur davon noch nichts gehabt. Auf ihrer Chriſtusſtufe hat ſie es gepredigt. Warum ſoll ſie es nicht in Äonen der Zukunft, mit Weſen, denen Sterne vielleicht nur Wegſteine ſind, wirklich durchſetzen? Und es iſt richtig, daß dieſes ewige Liebesgeſetz nur ganz Genüge fände, wenn es auch rückwirkende Kraft erhielte in die Vergangenheit hinein. Aber ſoll dieſe Natur, die mit unſern kleinen Menſchenaugen ſchon anfängt, in die Vergangenheit über Jahrmillionen fort zu blicken, Geſtalten, Umriſſe dort wieder zu erkennen, ſoll dieſe Natur nicht auf ſolchen Stufen Macht haben, ſich ſelbſt da unten wieder zu erwecken, ſich rück¬ wärts von Kreatur zu Kreatur noch einmal aufzurollen — und zu erlöſen? Wohlan, du haſt von mir verlangt, daß ich in die Zukunft träume, — träume, hörſt du? Aber ich wollte dir wenigſtens beweiſen, daß ich das auch optimiſtiſch kann, wenn du dich ver¬ mißt, als Peſſimiſt bis ins graue Weltende hineinzuphantaſieren. Es iſt nichts wahrlich in der Naturforſchung, das ſolchen Möglichkeiten widerſpräche, — Idealerfüllungen, die ſich in einer unbegrenzten Entwickelungslinie genau ſo gut einſtellen könnten, wie ſich ſchon in den paar Jahrtauſenden menſchlichen Heraufgangs kleine Ideale in Maſſe erfüllt haben. Setze hinter den einfachen Gedanken der Liebe zum Nächſten, der nach ſo viel Sonnen, Urzellen, Ichthyoſaurieren plötzlich bei ein paar Menſchen da iſt als innerſte Stimme der Natur, ſetze dahinter die Äonen der Zukunft, in denen die Naturkraft nie ſtirbt, ſondern nur höher und höher die Dinge gipfelt, die

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/386>, abgerufen am 21.11.2024.