von herrschender Macht. Der Winter ist die kraftarme Zeit, da es gilt, mit einem Minimum zu wirtschaften. Das Indi¬ viduum weiß kaum für sich selber Rat. In unermeßlichen Schwärmen ergießen sich Vögelscharen über viele Breitegrade weg jetzt von Nord nach Süd, bloß um sich ihre nackte indi¬ viduelle Lebensenergie zu retten. Tief in der Erde liegen Säuger, Reptile, Lurche und durchschlafen reglos, mit kaum noch tickender Herzuhr, die böse Zeit. Für ganze Geschlechter rasch alternder niederer Tiere ist jetzt gradezu Sterbensstunde. Erst mit dem Lenz dann setzt wieder der große goldene Kraft- Regen von der Sonne her ein. Wie in Danaes Schoß rinnen die Sonnenstrahlen auf die unfruchtbare Erde herab. Und all die konzentrierte, verhaltene, zurückgedrängte Regenerations¬ liebe, die Gattungsliebe, die Liebe der Samenzellen und der Eizellen, die sich in einem höheren Hunger sättigen wollen, schäumt auf. So bedeutet Winter und Sommer auch eine erotische Ebbe und Flut, mit der alljährlich die Sonnen¬ bahn der Erde in das irdische Liebesleben greift, greift an der idealen Handhabe der schiefen Achsenstellung unseres Planeten auf seiner Bahn.
Dahinein aber nun ein Bild mit der starren Riesigkeit, die alle Erdenbilder bekommen, wenn zusammenfassende Jahr¬ tausendschau darüber ist.
Rousseau und Forster wußten noch nichts davon, als ihnen der Paradiesesmensch sich erdwärts senkte in den Ur¬ menschen auf einer ewig blühenden Tropeninsel.
Dein Stern dort schwebt nicht ewig über dem Pol. Rolle eine Kette von Jahrtausenden zurück und der Spinn¬ faden deines mathematischen Gedankens, der die Erdachse bis in die Sternenräume hinein verlängerte, trifft ihn nicht mehr, sondern einen anderen. Die Richtung der Achse hat sich ver¬ schoben. Noch wieder eine höhere astronomische Periode rollt sich hier ab. Alltäglich schwingt sich die Erde einmal um sich selbst. Alljährlich schwingt sie sich einmal um die Sonne.
von herrſchender Macht. Der Winter iſt die kraftarme Zeit, da es gilt, mit einem Minimum zu wirtſchaften. Das Indi¬ viduum weiß kaum für ſich ſelber Rat. In unermeßlichen Schwärmen ergießen ſich Vögelſcharen über viele Breitegrade weg jetzt von Nord nach Süd, bloß um ſich ihre nackte indi¬ viduelle Lebensenergie zu retten. Tief in der Erde liegen Säuger, Reptile, Lurche und durchſchlafen reglos, mit kaum noch tickender Herzuhr, die böſe Zeit. Für ganze Geſchlechter raſch alternder niederer Tiere iſt jetzt gradezu Sterbensſtunde. Erſt mit dem Lenz dann ſetzt wieder der große goldene Kraft- Regen von der Sonne her ein. Wie in Danaes Schoß rinnen die Sonnenſtrahlen auf die unfruchtbare Erde herab. Und all die konzentrierte, verhaltene, zurückgedrängte Regenerations¬ liebe, die Gattungsliebe, die Liebe der Samenzellen und der Eizellen, die ſich in einem höheren Hunger ſättigen wollen, ſchäumt auf. So bedeutet Winter und Sommer auch eine erotiſche Ebbe und Flut, mit der alljährlich die Sonnen¬ bahn der Erde in das irdiſche Liebesleben greift, greift an der idealen Handhabe der ſchiefen Achſenſtellung unſeres Planeten auf ſeiner Bahn.
Dahinein aber nun ein Bild mit der ſtarren Rieſigkeit, die alle Erdenbilder bekommen, wenn zuſammenfaſſende Jahr¬ tauſendſchau darüber iſt.
Rouſſeau und Forſter wußten noch nichts davon, als ihnen der Paradieſesmenſch ſich erdwärts ſenkte in den Ur¬ menſchen auf einer ewig blühenden Tropeninſel.
Dein Stern dort ſchwebt nicht ewig über dem Pol. Rolle eine Kette von Jahrtauſenden zurück und der Spinn¬ faden deines mathematiſchen Gedankens, der die Erdachſe bis in die Sternenräume hinein verlängerte, trifft ihn nicht mehr, ſondern einen anderen. Die Richtung der Achſe hat ſich ver¬ ſchoben. Noch wieder eine höhere aſtronomiſche Periode rollt ſich hier ab. Alltäglich ſchwingt ſich die Erde einmal um ſich ſelbſt. Alljährlich ſchwingt ſie ſich einmal um die Sonne.
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von herrſchender Macht. Der Winter iſt die kraftarme Zeit,
da es gilt, mit einem Minimum zu wirtſchaften. Das Indi¬
viduum weiß kaum für ſich ſelber Rat. In unermeßlichen
Schwärmen ergießen ſich Vögelſcharen über viele Breitegrade
weg jetzt von Nord nach Süd, bloß um ſich ihre nackte indi¬
viduelle Lebensenergie zu retten. Tief in der Erde liegen
Säuger, Reptile, Lurche und durchſchlafen reglos, mit kaum
noch tickender Herzuhr, die böſe Zeit. Für ganze Geſchlechter
raſch alternder niederer Tiere iſt jetzt gradezu Sterbensſtunde.
Erſt mit dem Lenz dann ſetzt wieder der große goldene Kraft-
Regen von der Sonne her ein. Wie in Danaes Schoß
rinnen die Sonnenſtrahlen auf die unfruchtbare Erde herab. Und
all die konzentrierte, verhaltene, zurückgedrängte Regenerations¬
liebe, die Gattungsliebe, die Liebe der Samenzellen und der
Eizellen, die ſich in einem höheren Hunger ſättigen wollen,
ſchäumt auf. So bedeutet Winter und Sommer auch eine
erotiſche Ebbe und Flut, mit der alljährlich die Sonnen¬
bahn der Erde in das irdiſche Liebesleben greift, greift an der
idealen Handhabe der ſchiefen Achſenſtellung unſeres Planeten
auf ſeiner Bahn.
Dahinein aber nun ein Bild mit der ſtarren Rieſigkeit,
die alle Erdenbilder bekommen, wenn zuſammenfaſſende Jahr¬
tauſendſchau darüber iſt.
Rouſſeau und Forſter wußten noch nichts davon, als
ihnen der Paradieſesmenſch ſich erdwärts ſenkte in den Ur¬
menſchen auf einer ewig blühenden Tropeninſel.
Dein Stern dort ſchwebt nicht ewig über dem Pol.
Rolle eine Kette von Jahrtauſenden zurück und der Spinn¬
faden deines mathematiſchen Gedankens, der die Erdachſe bis
in die Sternenräume hinein verlängerte, trifft ihn nicht mehr,
ſondern einen anderen. Die Richtung der Achſe hat ſich ver¬
ſchoben. Noch wieder eine höhere aſtronomiſche Periode rollt
ſich hier ab. Alltäglich ſchwingt ſich die Erde einmal um ſich
ſelbſt. Alljährlich ſchwingt ſie ſich einmal um die Sonne.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/53>, abgerufen am 21.11.2024.
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