Allsechsundzwanzigtausendjährig aber schwingt sich einmal auch ihre Achse kreiselnd so herum, daß sie abwechselnd nach einer ganzen Reihe verschiedener Sterne des Firmaments hindeutet, um endlich den ersten, von dem sie ausging, wieder zu treffen.
Den einförmigen Wechsel von Sommer und Winter be¬ rührt das selber nicht. Denn ob sie auch wie ein tanzender Brummkreisel umticke, so bleibt die Achse doch unverändert schief dabei. Aber nimm geschichtlich diese Periode jetzt als deinen Spinnfaden auf. Nimm sie mindestens einmal, oder nimm sie gar mehrfach. Da oben wechselt der Polarstern vor deinem Blick, -- nicht mehr das Schwanzsternchen des kleinen Bären schimmert als solcher, sondern der, dort, jener Stern, -- die herrliche Wega in der Leyer, der Deneb im Schwan, -- bis endlich doch der Bärenstern wieder da ist, denn die Sechs¬ undzwanzigtausendjahr-Periode ist gerade wieder um auf dem himmlischen Zifferblatt: der Zeiger steht sozusagen auf wieder zwölf, -- aber da rutscht er auch schon wieder weiter und das Wechselspiel hebt von neuem an.
Nun aber bedenke: du drehst im Geiste wirklich an der Erdenuhr. Indem du auch nur einmal vom kleinen Bär wieder auf den kleinen Bär als Polarstern drehst, hast du mehr als zweimal zehntausend Jahre Erdgeschichte rückgedreht. Dein Auge hing an dem einsamen Achsenstern da oben, und du hast achtlos gedreht und gedreht. Aber laß ab -- und schau dich um. Durch ein Klosterfenster menschlicher Kultur, aufgerichtet auf der Nordhalbkugel der Erde in der gemäßigten Zone in Nord¬ deutschland, hast du deine Studien begonnen. Nun umschauert dich auf einmal Eiseskälte. Dein gotisches Fenster ist ein Höhlenspalt -- und zwar in einer Eishöhle. Turmhoch ragen die Wände zu beiden Seiten des Spalts: Gletschereis. Das Licht des Sternes dämmert geisterhaft am Grünblau dahin. Wasser tropft, eiskaltes Gletscherwasser. Eine dumpfe Müdig¬ keit will dich umfangen: Müdigkeit des Tieres, über dessen Versteck der Winter hereingebrochen ist und das sich anschickt,
Allſechsundzwanzigtauſendjährig aber ſchwingt ſich einmal auch ihre Achſe kreiſelnd ſo herum, daß ſie abwechſelnd nach einer ganzen Reihe verſchiedener Sterne des Firmaments hindeutet, um endlich den erſten, von dem ſie ausging, wieder zu treffen.
Den einförmigen Wechſel von Sommer und Winter be¬ rührt das ſelber nicht. Denn ob ſie auch wie ein tanzender Brummkreiſel umticke, ſo bleibt die Achſe doch unverändert ſchief dabei. Aber nimm geſchichtlich dieſe Periode jetzt als deinen Spinnfaden auf. Nimm ſie mindeſtens einmal, oder nimm ſie gar mehrfach. Da oben wechſelt der Polarſtern vor deinem Blick, — nicht mehr das Schwanzſternchen des kleinen Bären ſchimmert als ſolcher, ſondern der, dort, jener Stern, — die herrliche Wega in der Leyer, der Deneb im Schwan, — bis endlich doch der Bärenſtern wieder da iſt, denn die Sechs¬ undzwanzigtauſendjahr-Periode iſt gerade wieder um auf dem himmliſchen Zifferblatt: der Zeiger ſteht ſozuſagen auf wieder zwölf, — aber da rutſcht er auch ſchon wieder weiter und das Wechſelſpiel hebt von neuem an.
Nun aber bedenke: du drehſt im Geiſte wirklich an der Erdenuhr. Indem du auch nur einmal vom kleinen Bär wieder auf den kleinen Bär als Polarſtern drehſt, haſt du mehr als zweimal zehntauſend Jahre Erdgeſchichte rückgedreht. Dein Auge hing an dem einſamen Achſenſtern da oben, und du haſt achtlos gedreht und gedreht. Aber laß ab — und ſchau dich um. Durch ein Kloſterfenſter menſchlicher Kultur, aufgerichtet auf der Nordhalbkugel der Erde in der gemäßigten Zone in Nord¬ deutſchland, haſt du deine Studien begonnen. Nun umſchauert dich auf einmal Eiſeskälte. Dein gotiſches Fenſter iſt ein Höhlenſpalt — und zwar in einer Eishöhle. Turmhoch ragen die Wände zu beiden Seiten des Spalts: Gletſchereis. Das Licht des Sternes dämmert geiſterhaft am Grünblau dahin. Waſſer tropft, eiskaltes Gletſcherwaſſer. Eine dumpfe Müdig¬ keit will dich umfangen: Müdigkeit des Tieres, über deſſen Verſteck der Winter hereingebrochen iſt und das ſich anſchickt,
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Allſechsundzwanzigtauſendjährig aber ſchwingt ſich einmal auch
ihre Achſe kreiſelnd ſo herum, daß ſie abwechſelnd nach einer
ganzen Reihe verſchiedener Sterne des Firmaments hindeutet,
um endlich den erſten, von dem ſie ausging, wieder zu treffen.
Den einförmigen Wechſel von Sommer und Winter be¬
rührt das ſelber nicht. Denn ob ſie auch wie ein tanzender
Brummkreiſel umticke, ſo bleibt die Achſe doch unverändert ſchief
dabei. Aber nimm geſchichtlich dieſe Periode jetzt als deinen
Spinnfaden auf. Nimm ſie mindeſtens einmal, oder nimm
ſie gar mehrfach. Da oben wechſelt der Polarſtern vor deinem
Blick, — nicht mehr das Schwanzſternchen des kleinen Bären
ſchimmert als ſolcher, ſondern der, dort, jener Stern, — die
herrliche Wega in der Leyer, der Deneb im Schwan, — bis
endlich doch der Bärenſtern wieder da iſt, denn die Sechs¬
undzwanzigtauſendjahr-Periode iſt gerade wieder um auf dem
himmliſchen Zifferblatt: der Zeiger ſteht ſozuſagen auf wieder
zwölf, — aber da rutſcht er auch ſchon wieder weiter und das
Wechſelſpiel hebt von neuem an.
Nun aber bedenke: du drehſt im Geiſte wirklich an der
Erdenuhr. Indem du auch nur einmal vom kleinen Bär wieder
auf den kleinen Bär als Polarſtern drehſt, haſt du mehr als
zweimal zehntauſend Jahre Erdgeſchichte rückgedreht. Dein Auge
hing an dem einſamen Achſenſtern da oben, und du haſt achtlos
gedreht und gedreht. Aber laß ab — und ſchau dich um.
Durch ein Kloſterfenſter menſchlicher Kultur, aufgerichtet auf
der Nordhalbkugel der Erde in der gemäßigten Zone in Nord¬
deutſchland, haſt du deine Studien begonnen. Nun umſchauert
dich auf einmal Eiſeskälte. Dein gotiſches Fenſter iſt ein
Höhlenſpalt — und zwar in einer Eishöhle. Turmhoch ragen
die Wände zu beiden Seiten des Spalts: Gletſchereis. Das
Licht des Sternes dämmert geiſterhaft am Grünblau dahin.
Waſſer tropft, eiskaltes Gletſcherwaſſer. Eine dumpfe Müdig¬
keit will dich umfangen: Müdigkeit des Tieres, über deſſen
Verſteck der Winter hereingebrochen iſt und das ſich anſchickt,
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/54>, abgerufen am 21.11.2024.
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