scherben. Unter ihm der schwindelnde Abfall wie ein blauer Trichter in's Rhonethal. Von dem hob sich dann drüben wieder in Zickzacklinien aufwärts die Grimselstraße und über der ganz wolkenhoch, doppelt hoch durch den Abgrund darunter, wie das Stockwerk einer neuen Welt, die Eiskolosse des Berner Oberlandes mit der dräuenden Pyramide des Finsteraarhorns grade auf dem Rand. Wie auf einem Ballon schwebte der Blick von diesem Grund zur Höhe und wieder, schwerelos sich wiegend, von der Höhe zum Grund.
Da faßte er ganz, ganz tief unten ein liliputanisches Da¬ sein. Dort, wo die Rhone sich als winziges Fädchen dem Eis¬ koloß entwand, blinkten ein paar Fensterchen, Häuschen der Menschenkinder, die Hotelbauten in Gletsch. Es lag etwas Niederschmetterndes in dem Kontrast. Und doch wieder auch solche Kühnheit der Liliputarbeit in diesen Maulwurfhäufchen zu Füßen der über Berge hinweg gelagerten nackten Eisriesin. Unwillkürlich kam es auf die Lippe: So fing es an! So saß der erste Mensch am Gletscherrande der Eiszeit! Der Gletscher¬ leib lag auf einmal auf halb Europa und das da unten waren erste Hütten prähistorischer Menschen, -- Jagdhütten von Mammut-Jägern. Nie vorher war der Gedanke daran mir so als Bild aufgegangen. Das riesige Eis und der winzige Mensch. Was hatte diese Eissphinx in ihrer Umklammerung aus ihm gemacht? Aus ihm, dessen letzte Tierheit in den immergrünen Wäldern der Tertiärzeit lag!
[Abbildung]
Sie hatte ihn nicht begraben und nicht verjagt. Dafür haben wir die Beweise. Als Eiszeit-Anpassung taucht er auf, als vollkräftige, die das ungeheure Phänomen an Ort und Stelle besteht und den Ort dauernd behauptet, als es endlich
4*
ſcherben. Unter ihm der ſchwindelnde Abfall wie ein blauer Trichter in's Rhonethal. Von dem hob ſich dann drüben wieder in Zickzacklinien aufwärts die Grimſelſtraße und über der ganz wolkenhoch, doppelt hoch durch den Abgrund darunter, wie das Stockwerk einer neuen Welt, die Eiskoloſſe des Berner Oberlandes mit der dräuenden Pyramide des Finſteraarhorns grade auf dem Rand. Wie auf einem Ballon ſchwebte der Blick von dieſem Grund zur Höhe und wieder, ſchwerelos ſich wiegend, von der Höhe zum Grund.
Da faßte er ganz, ganz tief unten ein liliputaniſches Da¬ ſein. Dort, wo die Rhone ſich als winziges Fädchen dem Eis¬ koloß entwand, blinkten ein paar Fenſterchen, Häuschen der Menſchenkinder, die Hotelbauten in Gletſch. Es lag etwas Niederſchmetterndes in dem Kontraſt. Und doch wieder auch ſolche Kühnheit der Liliputarbeit in dieſen Maulwurfhäufchen zu Füßen der über Berge hinweg gelagerten nackten Eisrieſin. Unwillkürlich kam es auf die Lippe: So fing es an! So ſaß der erſte Menſch am Gletſcherrande der Eiszeit! Der Gletſcher¬ leib lag auf einmal auf halb Europa und das da unten waren erſte Hütten prähiſtoriſcher Menſchen, — Jagdhütten von Mammut-Jägern. Nie vorher war der Gedanke daran mir ſo als Bild aufgegangen. Das rieſige Eis und der winzige Menſch. Was hatte dieſe Eisſphinx in ihrer Umklammerung aus ihm gemacht? Aus ihm, deſſen letzte Tierheit in den immergrünen Wäldern der Tertiärzeit lag!
[Abbildung]
Sie hatte ihn nicht begraben und nicht verjagt. Dafür haben wir die Beweiſe. Als Eiszeit-Anpaſſung taucht er auf, als vollkräftige, die das ungeheure Phänomen an Ort und Stelle beſteht und den Ort dauernd behauptet, als es endlich
4*
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0065"n="51"/>ſcherben. Unter ihm der ſchwindelnde Abfall wie ein blauer<lb/>
Trichter in's Rhonethal. Von dem hob ſich dann drüben<lb/>
wieder in Zickzacklinien aufwärts die Grimſelſtraße und über<lb/>
der ganz wolkenhoch, doppelt hoch durch den Abgrund darunter,<lb/>
wie das Stockwerk einer neuen Welt, die Eiskoloſſe des Berner<lb/>
Oberlandes mit der dräuenden Pyramide des Finſteraarhorns<lb/>
grade auf dem Rand. Wie auf einem Ballon ſchwebte der<lb/>
Blick von dieſem Grund zur Höhe und wieder, ſchwerelos ſich<lb/>
wiegend, von der Höhe zum Grund.</p><lb/><p>Da faßte er ganz, ganz tief unten ein liliputaniſches Da¬<lb/>ſein. Dort, wo die Rhone ſich als winziges Fädchen dem Eis¬<lb/>
koloß entwand, blinkten ein paar Fenſterchen, Häuschen der<lb/>
Menſchenkinder, die Hotelbauten in Gletſch. Es lag etwas<lb/>
Niederſchmetterndes in dem Kontraſt. Und doch wieder auch<lb/>ſolche Kühnheit der Liliputarbeit in dieſen Maulwurfhäufchen<lb/>
zu Füßen der über Berge hinweg gelagerten nackten Eisrieſin.<lb/>
Unwillkürlich kam es auf die Lippe: So fing es an! So ſaß<lb/>
der erſte Menſch am Gletſcherrande der Eiszeit! Der Gletſcher¬<lb/>
leib lag auf einmal auf halb Europa und das da unten waren<lb/>
erſte Hütten prähiſtoriſcher Menſchen, — Jagdhütten von<lb/>
Mammut-Jägern. Nie vorher war der Gedanke daran mir ſo<lb/>
als Bild aufgegangen. Das rieſige Eis und der winzige<lb/>
Menſch. Was hatte dieſe Eisſphinx in ihrer Umklammerung<lb/>
aus ihm gemacht? Aus ihm, deſſen letzte Tierheit in den<lb/>
immergrünen Wäldern der Tertiärzeit lag!</p><lb/><figure/><p>Sie hatte ihn nicht begraben und nicht verjagt. Dafür<lb/>
haben wir die Beweiſe. Als Eiszeit-Anpaſſung taucht er auf,<lb/>
als vollkräftige, die das ungeheure Phänomen an Ort und<lb/>
Stelle beſteht und den Ort dauernd behauptet, als es endlich<lb/><fwtype="sig"place="bottom">4*<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[51/0065]
ſcherben. Unter ihm der ſchwindelnde Abfall wie ein blauer
Trichter in's Rhonethal. Von dem hob ſich dann drüben
wieder in Zickzacklinien aufwärts die Grimſelſtraße und über
der ganz wolkenhoch, doppelt hoch durch den Abgrund darunter,
wie das Stockwerk einer neuen Welt, die Eiskoloſſe des Berner
Oberlandes mit der dräuenden Pyramide des Finſteraarhorns
grade auf dem Rand. Wie auf einem Ballon ſchwebte der
Blick von dieſem Grund zur Höhe und wieder, ſchwerelos ſich
wiegend, von der Höhe zum Grund.
Da faßte er ganz, ganz tief unten ein liliputaniſches Da¬
ſein. Dort, wo die Rhone ſich als winziges Fädchen dem Eis¬
koloß entwand, blinkten ein paar Fenſterchen, Häuschen der
Menſchenkinder, die Hotelbauten in Gletſch. Es lag etwas
Niederſchmetterndes in dem Kontraſt. Und doch wieder auch
ſolche Kühnheit der Liliputarbeit in dieſen Maulwurfhäufchen
zu Füßen der über Berge hinweg gelagerten nackten Eisrieſin.
Unwillkürlich kam es auf die Lippe: So fing es an! So ſaß
der erſte Menſch am Gletſcherrande der Eiszeit! Der Gletſcher¬
leib lag auf einmal auf halb Europa und das da unten waren
erſte Hütten prähiſtoriſcher Menſchen, — Jagdhütten von
Mammut-Jägern. Nie vorher war der Gedanke daran mir ſo
als Bild aufgegangen. Das rieſige Eis und der winzige
Menſch. Was hatte dieſe Eisſphinx in ihrer Umklammerung
aus ihm gemacht? Aus ihm, deſſen letzte Tierheit in den
immergrünen Wäldern der Tertiärzeit lag!
[Abbildung]
Sie hatte ihn nicht begraben und nicht verjagt. Dafür
haben wir die Beweiſe. Als Eiszeit-Anpaſſung taucht er auf,
als vollkräftige, die das ungeheure Phänomen an Ort und
Stelle beſteht und den Ort dauernd behauptet, als es endlich
4*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/65>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.